Einführung

Eine Spurensuche von Critical Thinking ETH

Der Auslöser zum Start von Critical Thinking ETH war der Eindruck, dass die heutigen Studierenden, die in einer Welt mit vielen Möglichkeiten und wenig Mangel gross worden sind, das Gegebene unhinterfragt als selbstverständlich hinnehmen. Entsprechend wurde in den letzten Jahren immer wieder einmal die Klage laut, dass die Studierenden nur ungenügend darauf vorbereitet seien, ihr (gutes) Fachwissen mit den Bedürfnissen der Berufs- und Lebenspraxis in Beziehung zu stellen.
Diese Situationseinschätzung galt natürlich nicht nur für Studierende. Auch für die Gesellschaft als Ganzes wurde eine zunehmend unkritische, selbstgefällige Denk- und Anspruchshaltung beklagt. In diesem Zusammenhang war es die Vision von Critical Thinking ETH, die Studierenden und Forschenden nicht nur zur Bewältigung von noch unbekannten Herausforderungen der Zukunft zu befähigen, sondern sie darüber hinaus in die Lage zu versetzen, die Gesellschaft bei der Bewältigung solcher Herausforderungen in ihrer Funktion als Wissenschaftler aktiv zu unterstützen.

Und unvermittelt ist alles anders. Mit der Corona-Pandemie stand die Welt innert wenigen Monaten ohne jede Vorbereitungszeit in einem disruptiven Geschehen, von dem niemand wusste, wie damit umzugehen ist. Die Wirtschaft wurde von einer Woche auf die andere total heruntergefahren, Grenzen wurden dichtgemacht und Schulen und Universitäten geschlossen. Die Beschaulichkeit der vergangenen Jahre löste sich innert kürzester Zeit in einem Zustand hochgradiger Ungewissheit auf.
Und anders als bei den meisten vergleichbaren Umbrüchen in der Vergangenheit steht diesmal die Grundlagenwissenschaft im Zentrum des Geschehens. Niemand hatte eine Ahnung, wie dieses Virus wirklich funktioniert, wie man ihm wirkungsvoll begegnet und wie man es langfristig in den Griff bekommt. Nun waren die Wissenschaftler als Berater und als Auskunftspersonen gesucht – und wussten doch selbst nicht viel mehr als die allgemeine Bevölkerung. Als Ratgeber gefragt, erkannten sie plötzlich die Grenzen des eigenen Wissens und Könnens.

Was macht ein solcher disruptiver Umbruch mit der Gesellschaft? Was mit den Menschen in den Hochschulen und mit den Menschen auf der Strasse? Wie erlebten sie diese unbekannte Herausforderung und wie versuchten sie, diese Situation zu bewältigen?
Critical Thinking ETH hatte es sich ursprünglich zur Aufgabe gemacht, Hochschulangehörige für solche Prozesse zu sensibilisieren und zum Umgang damit zu befähigen. Doch wir sind in unserer Arbeit von der Realität überholt worden. Und so hat es uns interessiert, bei den Betroffenen nachzufragen, was mit ihnen in dieser Umbruchsituation geschehen ist, was für Spuren dies bei ihnen hinterlässt und mit welchen Gefühlen sie in die ungewisse Zukunft blicken.

Davon ausgehend haben wir Hochschulangehörige und Hochschulexterne über ihre Erfahrungen in der Situation des Lockdowns befragt. Für die Befragung haben wir auf die uns zur Verfügung stehenden beruflichen und privaten Netzwerke zurückgegriffen. Herausgekommen ist so eine Momentaufnahme mit vielen Facetten. Sie erhebt keinen Anspruch, repräsentativ für die ganze Bevölkerung oder die akademische Welt als Ganzes zu sein. Aber wir hoffen, dass sie die Lesenden und Betrachtenden an ihre eigenen Erfahrungen erinnert und sie ihrerseits zum kritischen Reflektieren einlädt.
Die Befragung wurde durchgeführt zwischen dem 20. Mai und dem 2. Juni 2020, in der Phase des behutsamen Neustarts nach dem umfassenden Lockdown. Die Befragten schauen also zurück auf die Zeit des fast totalen Stillstands und sie tun das im Bewusstsein, dass ihr Bewegungsradius nach wie vor sehr klein ist, dass weitere Öffnungsschritte aber bevorstehen.

Auch wenn die befragte Gruppe nicht repräsentativ ist für die Gesamtbevölkerung, zeigen die Antworten doch ein breites Spektrum von Eindrücken, von der sozialen Einsamkeit der Jungen über die wirtschaftlichen Sorgen der Berufstätigen bis zu den Ängsten der älteren Generation. Euphorie über die Leistung der Wissenschaft steht neben wissenschaftsskeptischen Rückmeldungen, der Sorge um die aktuelle Wirtschaftslage steht die Angst um die Verdrängung der Klimaproblematik durch die aktuelle Pandemie gegenüber, die Klage über die Isolation während des Lockdowns kontrastiert mit dem Dank für die Erfahrung von Ruhe und Beschaulichkeit in der Phase des totalen Stillstands. Alle diese Rückmeldungen zeigen, dass es nicht nur eine Sichtweise der Dinge gibt und dass alle diese unterschiedlichen Sichtweisen ihren Platz haben.
Die Antworten unserer Befragung haben wir in Wordclouds visualisiert und dort, wo dies nicht möglich war, haben wir die Texte – abgesehen von Schreibkorrekturen – ohne Redaktion zur Lektüre aufbereitet. Wir verzichten auf eine Interpretation oder eine Analyse der Antworten. Ziel ist, dass die Begriffswolken und Satzsammlungen für sich allein sprechen und die Betrachtenden zur Rückschau und zum Weiterdenken einladen.

Wir alle sind inzwischen schon viele Schritte weiter. Wir haben erfahren, wie die Geschichte weiterging. Gewisse Erwartungen haben sich erfüllt, andere wurden enttäuscht. Das Virus ist immer noch da und wir verstehen es immer noch nicht ganz. Die Gefahr einer zweiten Welle bleibt ebenso wie die Ungewissheit, was die wirtschaftlichen und geopolitischen Folgen dieser Pandemie sein werden. So bleibt die stete Unsicherheit, mit der wir weiter umzugehen lernen müssen, immer mit dem Gedanken im Hintergrund, dass am Schluss doch alles anders werden kann, als wir es uns vorstellen. Und so sind wir täglich gezwungen, kritisches Denken zu üben, wenn wir von der Entwicklung nicht auf dem falschen Fuss erwischt werden wollen.
In einer solchen Situation macht es immer mal wieder Sinn innezuhalten, zurückzuschauen und aus dieser Rückschau die aktuellen Entwicklungen kritisch zu reflektieren. Dazu sollen diese Momentaufnahmen aus der Endphase des Lockdowns anregen. Wir wünschen ein inspirierendes Durchblättern durch die so entstandene virtuelle Wordcloud-Galerie!

Zürich, im Juli 2020
Hansjürg Büchi und das Team von Critical Thinking ETH
 

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