Ausstieg aus dem evolutiven Wettlauf
Bei einigen HIV-Infizierten kämpft das Immunsystem nicht gegen das Immunschwächevirus an, sondern der Körper toleriert den Erreger. Wie stark sich Infizierte in ihrer Toleranz unterscheiden und mit welchen Faktoren dies zusammenhängt, bestimmte nun ein Forschungsteam unter ETH-Leitung.
In der Ökologie ist die Toleranz gegenüber Krankheiten definiert als eine Strategie des Wirtes, einen Erreger nicht bis aufs Blut zu bekämpfen, sondern zu tolerieren um längerfristig besser zu (über)leben. Ein wichtiges Merkmal der Toleranz ist, dass die Krankheit nur sehr langsam oder gar nicht fortschreitet, selbst wenn der Wirt eine hohe Erregerlast in sich trägt.
Roland Regös, Senior Scientist am Institut für theoretische Biologie der ETH Zürich, hat diesen Ansatz nun auf die HIV-Erkrankung übertragen. Er wollte herauszufinden, ob es Infizierte gibt, die gegenüber dem HI-Virus toleranter sind als andere und – falls ja – von welchen Faktoren diese Toleranz abhängt. Die Studie ist soeben in PLoS Biology erschienen.
Von der Mangabe zum Menschen
Die Idee zur aktuellen Studie keimte in Regös während seiner Postdoc-Anstellung in Atlanta. Dort arbeitete er mit Forschern eines grossen Primatenzentrums zusammen. Sie untersuchten Russmangaben (Cercocebus atys), die mit SIV infiziert sind, einem HIV-ähnlichen Virus, das Affen befällt. Einige dieser Mangaben wurden nicht krank, obwohl in ihren Blut eine hohe Zahl des SI-Virus‘ zu finden war. «Die Infektion in dieser Affenart ist eines der besten Beispiele für Krankheitstoleranz», sagt der Forscher. Er und seine Mitautoren – alles Mediziner – interessierten sich nun, ob das Konzept der Toleranz auch auf menschliche Erkrankungen übertragen werden kann. Um zu bestimmen, welche Faktoren mit der Toleranz zusammenhängen, werteten die Wissenschaftler die Daten der Schweizer HIV-Kohorte statistisch aus.
Junge tolerieren HIV besser als Ältere
Ihre Analysen zeigen, dass gewisse Patientengruppen gegenüber HIV toleranter sind als andere. So ist die Gruppe der 20-jährigen toleranter als die der 60-jährigen. Die Krankheit entwickelt sich bei den älteren Infizierten um den Faktor 1,7 schneller als bei den jüngeren.
Das trifft auch auf die Gruppe von Infizierten zu, deren HLA-B-Gene in zwei verschiedenen Varianten vorliegen. HLA-B-Gene sind eine Gruppe von Genen, die Immunität gegenüber dem HI-Virus vermitteln. Jeder Mensch hat von jedem Gen zwei Kopien. Diese Kopien müssen nicht identisch sein. Sind sie es nicht, wird das als Heterozygotie bezeichnet. Sind beide HLA-B-Varianten identisch, also homozygot, so ist die Toleranz gegenüber dem Virus deutlich geringer.
Bestimmte HLA-B-Varianten vermitteln bekanntermassen eine Immunabwehr gegen den Virus. Ihre Wirkung dient dessen Vernichtung. Diese Varianten sind nicht für die Toleranz verantwortlich. Vielmehr sind es Kombinationen anderer HLA-B-Varianten, die mit der Toleranz in Verbindung stehen.
Keinen Unterschied in der Toleranz fand Regös zwischen den Geschlechtern. Bei Frauen und Männern ermittelte der ETH-Forscher etwa gleich hohe Werte, obwohl Frauen durchschnittlich tiefere Ausgangsvirenlasten als Männer aufweisen.
Verhältnis von Immunzellen zu Virus massgebend
Regös benutzte für seine Analysen einerseits die Zahl bestimmter Immunzellen, der CD4+-Zellen, andererseits die Virenlast während der Latenzphase der Infektion. Diese ist für die Forscher ein wichtiges Mass in Zusammenhang mit HIV-Infektionen. Sobald sich jemand mit dem Virus infiziert, vermehrt es sich rasch und stark, ehe das Immunsystem dessen Zahl auf ein gewisses Niveau reduziert. Von da an hat das Immunsystem den Erreger während langer Zeit relativ gut im Griff. Die Zahl der CD4+-Zellen sinkt aber bis zu einem kritischen Punkt hin laufend ab. Fällt die Zahl dieser Immunzellen unter 200 Stück pro Millionstel Liter Blut, bricht AIDS aus. Aus dem Verhältnis zwischen der Rate, mit der die CD4+-Zellen abfallen, und der Virenlast während der Latenzphase berechneten die Forschenden die Toleranz von HIV-Infizierten gegenüber dem Virus.
Toleranzbasierte Therapien?
Toleranz und Resistenz sind alternative, aber komplementäre Verteidigungsstrategien, mit denen sich ein Wirt gegen Pathogene zur Wehr setzt. Bei der Toleranz steht nicht die Vernichtung des Gegners und damit der Verringerung der Erregerlast im Vordergrund, sondern die Milderung der negativen Auswirkungen, die die Infektion für den Wirt hat. Dies kommt nicht einer Kapitulation gleich. Die Strategie verspricht vielmehr, dass sich der evolutive Wettlauf zwischen den Parteien abkühlt. «Es läuft in die Richtung Kommensalismus», sagt Regös. Dies sei eine Art Waffenstillstand zwischen zwei ungleichen Partnern. Die beiden Strategien haben jedoch unterschiedliche evolutive Konsequenzen: Während die Toleranz die Bildung von Anpassungen eher unterdrückt, fordern Resistenzen die Flexibilität von Viren geradezu heraus, was in ein evolutives Wettrüsten der Gegner mündet.
«Auf lange Sicht könnte man versuchen, diesen Waffenstillstand therapeutisch zu nutzen», sagt der ETH-Forscher. Toleranz-basierte Therapiestrategien könnten interessante Alternativen sein, da man von ihnen erwarte, dass sie nicht zu behandlungsresistenten Pathogenen führen.
Literaturhinweis
Regoes RR, McLaren PJ, Battegay M, Bernasconi E, Calmy A, et al. (2014) Disentangling Human Tolerance and Resistance Against HIV. PLoS Biol 12(9): e1001951. doi:externe Seite 10.1371/journal.pbio.1001951