«Unter Rehabilitation verstehen wir auch Integration.»
Mit der Reha-Initiative will die ETH Forschung und Ausbildung zur Rehabilitation ausbauen. Wie aber wird man Betroffenen am besten gerecht? Ein Arzt, ein Forscher und eine Betroffene im Gespräch.
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Frau Mauchle, wie ist es Ihnen auf dem Weg an die ETH ergangen?
Thea Mauchle: Ich bin mit dem «Bike», also meinem Zuggerät für den Rollstuhl, gekommen. Leider sind noch nicht alle Trams und Haltestellen niederflurig. Das muss ich jeweils im Vorfeld abklären. Oder wo hier im ETH-Hauptgebäude die Rampen sind oder ein grosser Lift. Ich plane immer viel Zeit ein.
Ein Toprollstuhl allein hilft also nicht?
Robert Riener: Es braucht noch vieles mehr. Es braucht barrierefreie Gebäude, es braucht eine gute Beschilderung. Natürlich kann auch Technik helfen. Etwa eine App für Gebäude, die den besten Weg für den Rollstuhl zeigt. Oder ein Rollstuhl, der Treppen steigen kann, wie ihn der ETH-Spin-off Scewo entwickelt. Die Kombination aus Barrierefreiheit und Technik kann viele Lösungen bieten.
Herr Leunig, wie erleben Sie die Situation als Arzt?
Michael Leunig: Viele der angesprochenen Aspekte erlebe ich in meinem persönlichen Alltag an der Schulthess Klinik nicht direkt. Dank der Entwicklung minimalinvasiver Techniken sind wir heute so weit, dass Patienten oft wenige Tage nach der Operation nach Hause gehen können.
Die Schulthess-Stiftung ist aber stark engagiert in der Reha-Initiative der ETH.
Leunig: Wir konzentrieren uns zwar auf die Akutversorgung. Aber wir wissen natürlich, dass die nachfolgende Rehabilitationsphase extrem wichtig ist. Wir möchten zum Beispiel herausfinden, wie man Sarkopenie, das Nachlassen der Muskelkraft im Alter, verhindern kann. Es ist sinnvoll, den Begriff Reha möglichst weit zu fassen, wenn man auch an die alternde Gesellschaft denkt.
Riener: In der Reha-Initiative gehen wir von einem sehr breiten Rehabilitationsbegriff aus, der den ganzen Prozess umfasst: vom Ende der Akutphase über verschiedene Reha-Etappen bis hin zur Unterstützung von Menschen mit Behinderungen im Alltag. Reha bedeutet für uns auch Integration im Alltag, Inklusion in der Gesellschaft.
Konkret fördert die Schulthess-Stiftung eine Professur für Datenwissenschaft. Warum?
Leunig: Wenn wir Daten sammeln, um zu erkennen, wo Patienten an ihre Grenzen kommen, kann man viel gezielter in Optimierungen investieren. Mit solchen Mitteln arbeiten wir bereits seit Langem in der Orthopädie und nun auch in kleineren Studien in der Physiotherapie. Für die Ausweitung grosser Datenmengen brauchen wir die Datenwissenschaft.
Riener: Die Schulthess Klinik verfügt bereits über grosse Datensätze, in denen Patientengeschichten über viele Jahre nach einer chirurgischen Behandlung im anschliessenden Alltag verfolgt wurden. Mit diesem Wissen kann man die Behandlung optimieren und im besten Fall sogar Erkrankungen vermeiden – also Prävention betreiben. Und für Menschen mit Behinderungen kann man den Einsatz von Technik gezielter an die tatsächlichen Bedürfnisse anpassen.
«Ein weitgefasster Rehabegriff ist auch angesichts der alternden Gesellschaft sinnvoll.»Michael Leunig, Chefarzt Hüftchirurgie und CMO an der Schulthess Klinik in Zürich
Was halten Sie davon, Frau Mauchle?
Mauchle: Ich finde, es müsste vor allem mehr für die Barrierefreiheit getan werden. In der Reha lernte ich, wie ich mit dem Rollstuhl möglichst selbstbestimmt und selbstständig leben kann – dann kam ich aus der Reha und merkte, dass nichts geht. Für mich war es damals ein Schock. Das hat mich politisiert, weil ich den Eindruck hatte, die Öffentlichkeit ist behindertenfeindlich eingestellt.
Hat sich da in den vergangenen 30 Jahren etwas geändert?
Mauchle: In der Medizin hat sich viel verbessert – in der Gesellschaft nicht wirklich. Man erwartet immer noch, dass sich der Einzelne anpasst und Hindernisse bewältigt. In den Diskussionen um Behindertengleichstellung gibt es aber einen Paradigmenwechsel. Man kommt vom individuellen, medizinischen Blickwinkel mehr auf einen sozialen: Wie können wir die Umgebung so gestalten, dass der Mensch auch mit der Behinderung oder seiner Krankheit am gesellschaftlichen Leben teilnehmen kann? Vielleicht auch mit Hilfsmitteln. Aber ich möchte nicht, dass Architekten wegen der treppensteigenden Rollstühle meinen, jetzt müssten sie nicht mehr an diese «hässlichen» Rampen denken.
Leunig: Aber können wir nicht auch hoffen, dass es durch neue Technologien immer weniger Barrieren geben wird? Oder dass der Einzelne sie problemloser meistern kann?
Mauchle: Ich bin nicht technikfeindlich. Ich finde nur, dass Technik mir nicht immer hilft, sondern auch sehr beschwerlich sein kann. Man muss sie beschaffen, warten, unterbringen. Technisch ist vieles sicher spannend – aber im Alltag nicht unbedingt praktisch.
Herr Leunig, was hat der technische Fortschritt in Ihrem Bereich bewirkt?
Leunig: Es hat sich viel verändert. Früher hat man vor allem auf die Verbesserung der Implantate gesetzt. Derzeit erleben wir enorme Fortschritte in der Operationstechnik. In der Kurzreha bei uns geht es dann um den Muskelaufbau. Vielleicht gibt es bald einmal Neurostimulationstechniken, die neben akut Erkrankten auch chronisch Kranken helfen.
«Technik kann auch sehr beschwerlich sein.»Thea Mauchle, Präsidentin der Behindertenkonferenz Kanton Zürich
Wie erleben Sie den Übergang von der Erfindung in die Praxis?
Mauchle: Im organischen Bereich, wie Nerven, Blase, Darm, hat sich vieles verbessert, auch bei Medikamenten oder Therapien. Andererseits: Als ich vor 30 Jahren meinen Unfall hatte, gingen gerade Meldungen durch die Medien, dass gelähmte Ratten wieder laufen könnten. Ich hatte tatsächlich die Idee: Toll – dann kann ich in zehn Jahren auch wieder gehen! Das hat sich leider nicht bewahrheitet.
Leunig: Im Bereich der Implantate besteht die Herausforderung, dass Vorschriften – auch aufgrund von einzelnen Skandalen – heute so streng geworden sind, dass es immer schwieriger wird, Neuerungen in die Klinik zu bringen.
Riener: Die Entwicklungskosten im medizinischen Bereich sind enorm. Aber ohne Neuentwicklung gibt es keinen Fortschritt. Die neue Prothese, die wir gerade im Labor testen, oder das neue Implantat wird die heute teuerste Prothese ersetzen oder billiger machen.
Herr Riener, was hat den Ausschlag zur Lancierung der Reha-Initiative gegeben?
Riener: Ein grosser Anstoss war der Cybathlon. Wir haben viel positives Feedback bekommen, von Behindertenorganisationen, von Menschen mit und ohne Behinderung. Das hat uns sehr ermutigt, das Thema in Forschung, Lehre und Technologietransfer an der ETH zu vertiefen. Das betrifft auch den Diskurs über Behinderung in der Gesellschaft. So wird es jetzt eine Professur für barrierefreies Bauen geben. Und wir denken an eine Professur in den Gesellschaftswissenschaften, die sich mit dem Thema Inklusion befassen soll.
Leunig: Am Cybathlon ist faszinierend, dass man Dinge sieht, die vielleicht heute noch nicht in Serienproduktion gehen können, aber einen Weg in die Zukunft zeigen. Sehr überzeugend finde ich, dass Betroffene die Techniken einsetzen und testen. Enorm positiv ist auch, dass die Awareness der Leute für das Thema Behinderung gefördert wird.
«Durch gemeinsames Erleben schafft man viel mehr Akzeptanz und macht Anderssein zur Normalität.» Robert Riener, Professor für sensomotorische Systeme an der ETH
Glauben Sie, dass Awareness hilft?
Mauchle: Ich glaube, dass man eigentlich gegenüber dem Thema Behinderung und damit auch gegenüber Betroffenen eine tiefsitzende psychologische Abwehr hat. Niemand wünscht sich eine Behinderung, niemand wünscht sich ein behindertes Kind. Auch wenn es Superroboter geben wird, wird man einer Behinderung gegenüber nie wirklich euphorisch sein. Aus dieser Abwehrhaltung heraus wird auch vieles nicht gemacht, was eigentlich möglich wäre. Ich denke oft bei Restaurants mit Eingangsstufen: Die wollen einfach nicht, dass durch den Anblick behinderter Personen die Stimmung verdorben wird.
Riener: Deshalb ist es umso wichtiger, dass sich die Menschen mit dem Anderssein auseinandersetzen. Das ist auch die Idee des Cybathlon: Durch gemeinsames Erleben, durch gemeinsames Organisieren und Diskutieren schafft man viel mehr Akzeptanz und macht Anderssein zur Normalität.
Wie fördern Sie Begegnungen konkret?
Riener: Es gibt das Schulbesuchsprogramm, es gibt Podiumsdiskussionen. Wir gehen mit dem Programm Cybathlon @School in die Schulen, weil wir glauben, dass man möglichst früh mit solchen Begegnungen anfangen muss. Dort werden nicht nur neue Technologien vorgeführt, sondern jemand im Rollstuhl oder mit einer Prothese unterrichtet die Kinder.
Mauchle: Kinder haben eigentlich noch am wenigsten Probleme bei solchen Begegnungen. Die würden auch ganz ungeniert fragen, wenn sie mich auf der Strasse sehen. Manche Eltern reagieren aber sehr verunsichert.
Riener: Als Erwachsener ist man oft unbeholfen. Als ich für meine Doktorarbeit das erste Mal mit einem querschnittgelähmten Patienten in der Klinik zu tun hatte, hatte ich extreme Hemmungen. Das wäre anders gewesen, wenn ich schon früh an den Umgang mit Menschen mit Behinderungen gewöhnt gewesen wäre.
Frau Mauchle, wie beurteilen Sie als Betroffene die Reha-Initiative der ETH?
Mauchle: Ich sehe sie mit freundlicher Skepsis. Enorm wichtig ist, dass wir als Behindertenorganisationen, aber auch als Direktbetroffene von Behinderung und Technik-Nutzende wirklich einbezogen werden.
Die Reha-Initiative fördern
Gemeinsam mit Behindertenorganisationen, Kliniken, Behörden und Unternehmen arbeiten Forschende der ETH daran, eine umfassende Rehabilitation sicherzustellen. Donationen der Stavros Niarchos Foundation sowie zahlreicher Privatpersonen verliehen dem Vorhaben 2019 ergänzend zur Förderung durch die Wilhelm Schulthess-Stiftung einen grossen Schub. Die ETH sucht weitere Förderpartner.
externe Seite www.ethz-foundation.ch/reha-initiative
Dieser Text ist in der aktuellen Ausgabe des ETH-Magazins Globe erschienen.
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