Einmal tief einatmen, bitte!

Die Lunge beherbergt eine komplexe Flüssigkeit: Das Surfactant. Es kann bei Frühgeborenen oder Covid-Betroffenen auf der Intensivstation über Leben und Tod entscheiden. Eine ETH-Materialwissenschaftlerin will etwas Licht in die trübe Substanz bringen.

Maria Novaes Silva sitzt hinter der Plexigalskammer und führt die Versuche durch.
In der kleinen Plexiglaskammer simuliert Maria die Atmung. (Bild: Daniel Winkler)

Maria Novaes Silva ist eine quirlige junge Frau. Sie geht zügig durch die Gänge der ETH-Labore von Jan Vermant. Kaum hat sie die Labortür im Obergeschoss geschlossen, ist sie auch schon unten im fensterlosen Keller. Bei ihrer Versuchsapparatur angekommen, zieht sie sich den Labormantel über und wird ruhig und konzentriert. Ganz vorsichtig giesst sie eine trübe Flüssigkeit in eine kleine Kammer aus Plexiglas. «Diese komplexe Flüssigkeit heisst Surfactant und wurde aus der Lunge von Tieren gewonnen.» Im Rahmen ihrer Doktorarbeit will Maria die Eigenschaften dieser besonderen Flüssigkeit besser verstehen.

Spezielle Lungenzellen produzieren das Surfactant. Es erleichtert das Einatmen und verhindert am Ende des Ausatmens, dass die Lungenbläschen kollabieren. Medizinisch hat das Surfactant eine grosse Bedeutung. Kommen Frühgeborene zur Welt, bevor ihre Lunge ausgereift ist, sind ihre Überlebenschancen deutlich kleiner. Mit einer Surfactant-Injektion in die Lunge versucht die Medizin, das Organ zu retten. Und bei Covid-Patient:innen, die beatmet werden müssen, sind die Lungenzellen, die das Surfactant produzieren, beeinträchtigt.

Jan Vermant, ETH-Professor für weiche Materialien und Mitglied des Kompetenzzentrum für Materialien und Prozesse (MaP), ist viel in Kontakt mit Medizinern und Ärztinnen. Von ihnen weiss er, dass bei der Beatmung von Patient:innen ab und zu eine tiefe Atmung stattfinden muss. Wäre die Beatmung konstant regelmässig, würde sich die Lungenfunktion verschlechtern. Warum es für die Lunge wichtig ist, dass sie sich immer mal wieder vollständig füllt, versteht die Medizin noch nicht im Detail. Immerhin kann für junge Eltern die Vorstellung tröstlich sein, dass das schreiende Kind gerade seine Lunge mal wieder ordentlich füllt. «Ein tiefer Seufzer von Zeit zu Zeit ist wichtig für unsere Atmung», weiss Maria.

Maria vermutet, dass die Oberflächenspannung des Surfactant damit zu tun hat. Molekulare Kräfte sorgen bei Flüssigkeiten dafür, dass ihre Oberfläche so klein wie möglich gehalten wird. In der Oberflächenspannung liegt auch der Grund, warum Wassertropfen rund sind. Um diese Vermutung zu prüfen, simuliert Maria in der gefüllten Plexiglaskammer durchschnittliche Atemzüge und misst dabei die Spannung der Oberfläche des Surfactants. Im ersten Experiment führt sie die Luft gleichmässig zu und ab. Sie simuliert die Ruheatmung. Dabei misst die Materialwissenschaftlerin eine Oberflächenspannung von 25 Millinewton pro Meter. Maria hilft, diese Zahl einzuordnen: «Dies ist eine hohe Oberflächenspannung, wenn es um die Atmung geht. Wenn wir immer dagegen anatmen müssten, wäre das sehr anstrengend.»

In einem zweiten Experiment stört sie die gleichmässige Ruheatmung jeweils nach etwa vier Zyklen durch eine einmalige grössere Luftzufuhr. Strömt die Luft danach wieder gleichmässig ein und aus, sinkt die Spannung von 25 auf 15. «Wir vermuten, dass tiefe Atemzüge von Zeit zu Zeit wichtig sind, um die Oberflächenspannung zu senken und so das Atmen zu erleichtern.»

Zur Veranschaulichung hat Maria eine Präsentation vorbereitet. Im Seminarraum erklärt sie, dass sich unser Atmungssystem von der Luftröhre über die Bronchien und Bronchiolen bis zu den Alveolen mehr als zwanzigmal gabelt. Die Alveolen ganz am Ende dieses Bäumchens bilden ein Netzwerk aus mehreren hundert Millionen Bläschen, verbunden durch Poren. Diese Lungenbläschen füllen sich beim Einatmen und entleeren sich beim Ausatmen wieder. Damit sie in leerem Zustand nicht kollabieren, sind sie mit dem Surfactant ausgekleidet.

Bis zum tiefen Seufzer

Zurück im Labor füllt sie das tierische Surfactant nun in eine andere Versuchsanlage. Sie erinnert an eine riesige Spinne mit edlen, silbernen Beinen. In der Mitte hängt von oben eine dünne Nadel scheinbar schwebend über dem Surfactant. Weltweit gibt es nur eine Handvoll dieser einzigartigen Apparaturen, entwickelt im Labor an der ETH. Im Keller hat Maria die natürliche Atmung simuliert: einige leichtere Atemzüge, ab und an ein tiefer. Hier im Obergeschoss simuliert sie mehrere Atemzüge der leichteren Ruheatmung, dann graduell immer tiefere Atemzüge, zuletzt die tiefen Seufzer. Durch das Dehnen und Zusammenziehen ändert sich die Fläche des Surfactants. Dabei misst die Nadel die Oberflächenspannung. So kann Maria herausfinden, welchen Einfluss die Atemtiefe hat. Im Moment scheint es so, dass die Ausdehnung jener Faktor ist, der die Oberflächenspannung senkt und das Atmen erleichtert.

«Die Situation in der Lunge ist natürlich viel komplexer», sagt die Doktorandin schon fast entschuldigend. «Aber wir sind Materialwissenschaftler und wollen die einzelnen Eigenschaften eines Materials möglichste präzise charakterisieren und entkoppeln deshalb das komplexe Zusammenspiel der verschiedenen Kräfte mit Absicht.»

Maria arbeitet an diesem Morgen noch an einer dritten Versuchsanlage. Unter dem Mikroskop liegt ein kleiner Ring mit einem Loch in der Mitte. Er ist umgeben von kleinsten Poren. Auch er ist mit dem Surfactant gefüllt. Übt Maria nun über eine Apparatur Druck auf die Flüssigkeit auf, wird der Film dünner – bis er irgendwann reisst. «Das ist so gewollt», sagt Maria schmunzelnd. Sie erinnert nochmals an ihre Präsentation im Seminarraum. Die Alveolen, die kleinen Lungenbläschen, sind durch Poren miteinander verbunden. Es könnte sein, dass bei der Atmung der dünne Surfactant-Film reisst, um den Druck innerhalb der Alveolen via Poren auszugleichen.

Inhalieren statt injizieren

Das Surfactant ist eine geheimnisvolle Flüssigkeit, die Maria sichtlich fasziniert. Bei ihren materialwissenschaftlichen Experimenten treibt sie immer auch die medizinischen Fragestellungen an. Die Injektionen bei den Frühgeborenen zum Beispiel. Es gibt Ansätze, das Surfactant nicht über eine Injektion, sondern nicht-invasiv über eine Atemmaske in Form von Aerosolen in die Lunge zu bringen. «Wir wollen mit unserer Forschung herausfinden, was die besten Parameter sind, um diese Technik zu verbessern», fasst Maria zusammen. «Wenn wir die Mechanismen verstehen, können wir den Medizinern helfen, ihre Werkzeuge zu verbessern.»

Maria, die quirlige junge Materialwissenschaftlerin, scheint mit viel Energie, Motivation und Ausdauer an diesem Ziel zu arbeiten.

Doktoratsschule

Die MaP Doctoral School wurde 2021 gegründet, um die Vernetzung über die Departementsstruktur hinweg zu fördern. Sie bietet Doktorierenden eine erstklassige Ausbildung in fünf thematischen Ausrichtungen, die die Hauptforschungsgebiete der ETH Zürich im Bereich Materialien und Prozesse widerspiegeln. Das Angebot umfasst massgeschneiderte Aktivitäten wie Seminarreihen, Laborbesichtigungen und Exkursionen sowie ein vielseitiges Programm zur Entwicklung persönlicher Fähigkeiten. Die School geht aus dem MaP, dem Kompetenzzentrum für Materialien und Prozesse der ETH Zürich, hervor, das 80 Forschungsgruppen aus 11 Departementen mit über 600 Doktorierenden vereint.

«Globe» Wasser

Globe 23/02 Titelblatt: Vier Arme spielen mit Eiswürfeln

Dieser Text ist in der Ausgabe 23/02 des ETH-​​​​Magazins Globe erschienen.

Download Ganze Ausgabe lesen (PDF, 2.8 MB)

JavaScript wurde auf Ihrem Browser deaktiviert