Überzeugend führen dank Selbstreflexion
Die Lehre geht an der ETH Zürich neue Wege: In einem Lehrprojekt lösen Studierende reale Aufgaben, die nicht die Hochschule stellt, sondern Unternehmen. In einem anderen geht es darum, wie sie durch kontroverse Diskussionen gute Argumente finden.
Die Studierenden staunten. Erwartet hatten sie einfach ein Feedback auf ihre Arbeit. Im Leadership-Kurs hatten sie ein Monitoring entworfen, mit dem ein Unternehmen ihr Veränderungsmanagement bei Mitarbeitergruppen überprüfen konnte. Nun kam der Konzernchef persönlich an die ETH, und die für das Veränderungsmanagement Zuständigen waren über den Video-Gesprächsdienst Skype zugeschaltet. Dann teilte der CEO den überraschten Studierenden mit, dass ihr Monitoring-Konzept so gut sei, dass die Firma es weiterentwickelt und bereits weltweit in allen Betrieben umgesetzt habe.
Die Anerkennung der Top-Manager war für die Studierenden eine willkommene Wertschätzung am Ende einer intensiven Lehrveranstaltung, die sich deutlich von einer klassischen Vorlesung abhebt: Im «Entrepreneurial Leadership»-Kurs trägt nicht der Professor das wesentliche Grundlagenwissen vor.
Vielmehr eignen sich die Studierenden sowohl die erforderlichen Fachkenntnisse als auch die Führungs- und Managementfähigkeiten selbständig an. Dazu gleisen sie in einem Unternehmen ein Projekt auf und setzen es um. Insgesamt vier Professoren stehen ihnen als Coaches zur Verfügung – unter Ihnen Volker Hoffmann, Professor für Nachhaltigkeit und Technologie, und Stefano Brusoni, Professor für Technologie- und Innovationsmanagement.
Echte Probleme statt Übungsbeispiele
Stefano Brusoni lässt es gleichfalls nicht unberührt, wenn sich ein CEO einen halben Tag Zeit nimmt, um den Studierenden sein Feedback zu geben: «Das ist für uns alle eindrücklich», sagt der Italiener, der seit 2011 an der ETH lehrt. Seine Freude ist begründet: Brusoni steckt viel Zeit in die Gespräche mit Top-Managern, um mit ihnen abzuklären, welche Aufgaben die Studierenden in den Unternehmen bearbeiten können.
Schliesslich geht es in dem Kurs nicht um Übungsbeispiele: Die Manager geben reale Probleme vor und erwarten, dass die Studierenden ihnen Lösungen aufzeigen. Dafür müssen sie Verantwortung übernehmen. «Nach einer Einführung durch uns und die Geschäftsführung liegt der Lead allein bei ihnen; sie müssen das Projekt führen und umsetzen», sagt Claude Siegenthaler, einer der Dozenten im Kurs und Professor für Unternehmensnachhaltigkeit an der Hosei Universität in Tokio.
Siegenthaler unterrichtet seit 2010 mit Methoden des erfahrungsbasierten und reflexiven Lernens im Department Management, Technologie und Ökonomie (MTEC). Diese Methoden verlangen auch vom Dozenten einen Rollenwechsel: «Wir halten uns als Lehrer zurück und nehmen die Rolle eines Coach ein, der die Studierenden mit Rat und Know-how unterstützt, wenn sie Fragen haben.»
Selten gelangen die Studierenden direkt zur Lösung. Bereits die Aufgabe ist oft auslegungsbedürftig: Schliesslich ist sie nicht wie in einer Prüfung speziell auf Studierende zugeschnitten, sondern aus der Sicht des Unternehmens gestellt. Es ist deshalb erforderlich, dass die Studierenden die Aufgabe selbst interpretieren und ihr eigenes Vorgehen gestalten, um in der knappen Zeitvorgabe ein wirkungsvolles Resultat zu erzielen.
Wissen allein führt nicht zum Ziel
Auf ihrem Weg von der Aufgabe bis zur Lösung lernen die Studierenden, dass sie ebenso auf Reflexion, Führungs- und Verhandlungsgeschick angewiesen sind wie auf natur- oder ingenieurwissenschaftliches Wissen: Zum Beispiel, wenn sie auf widersprüchliche Informationen und unterschiedliche Erwartungen im Unternehmen - oder in der eigenen Gruppe - treffen.
«Am Anfang sehen sich Studierende zum Teil in der Rolle der Experten und suchen nach der perfekten, wissenschaftlichen Lösung. Im Unternehmen realisieren sie, dass auch dort Experten arbeiten, und dass selbst eine wissenschaftlich noch so elegante Lösung wenig Wirkung hat, wenn sie die Fachleute nicht überzeugt. Um weiterzukommen, müssen sie ihre Rolle und ihre Strategie reflektieren und laufend anpassen. Das ist ein wichtiger Lernschritt», sagt Claude Siegenthaler.
«Die Fähigkeit, Probleme zu lösen, indem man kritisch die eigene Position reflektiert und mit guten Argumenten vertreten kann, ist keine Zusatzqualifikation, sondern eine Kernkompetenz.»Theo Wehner
An diesem Punkt setzt auch Theo Wehner, emeritierter Professor der ETH für Arbeits- und Organisationspsychologie, an: «Die Fähigkeit, Probleme zu lösen, indem man kritisch die eigene Position reflektiert und mit guten Argumenten vertreten kann, ist keine Zusatzqualifikation, die Studierende der ETH haben können oder nicht, sondern eine Kernkompetenz.»
Zusammen mit Christoph Hölscher, ETH-Professor für Kognitionswissenschaft, Albert Vollmer, Professor am Institut für Kooperationsforschung und –entwicklung an der Fachhochschule Nordwestschweiz und dem Erziehungswissenschaftler und Moderator Stefan Groß arbeitet Theo Wehner derzeit an einer Unterrichtsmethode, die Studierenden der ETH diese Reflexions- und Argumentationsfähigkeiten vermittelt.
Reflektiertes Argumentieren
Die Methode, für die sie nun einen «Werkzeugkasten» entwickeln, den Dozierende aller Disziplinen und Departemente in Zukunft in der Lehre einsetzen können, heisst «Konstruktive Kontroverse». Im Kern geht es um eine strukturierte Diskussion von Themen, in denen verschiedene Gruppen auseinandergehende Standpunkte, Lösungswege oder Ansätze vertreten. Dabei haben alle gute Gründe und Argumente, von denen keine per se richtig oder falsch sind.
Eine solche Situation kann in einer politischen Arena eintreten, wenn etwa Nuklearingenieure mit Kernkraftgegnern debatieren, oder auch in einer interdisziplinären Lehrveranstaltung, wenn Dozierende mit unterschiedlichen fachlichen Perspektiven argumentieren. «Die konstruktive Kontroverse hat den Vorteil, dass man die Stärken verschiedener Positionen systematisch erfassen und daraus die besseren Argumente für die eigene Position herleiten kann», sagt Albert Vollmer.
«Über das eigene Fachgebiet hinausblicken»
Für ihr Lehrprojekt hat die Gruppe um Christoph Hölscher eine Finanzierung der ETH Zürich aus dem Innovedum-Förderfonds erhalten. Das Gleiche gilt für Stefano Brusoni und Claude Siegenthaler, die den Leadership-Ansatz nun in einem nächsten Lehrprojekt auf Innovationsfragen in der Bauindustrie anwenden. Mit Innovedum unterstützt die ETH Zürich Dozierende, die in der Lehre neue Wege beschreiten. Insgesamt hat die ETH-Lehrkommission sechs Lehrprojekte bewilligt.
Die zwei Lehrprojekte haben einen engen Bezug zur «Critical Thinking»-Initiative: «Wir möchten die Studierenden ETH-weit dazu anregen, über die Grundlagen des eigenen Fachgebiets hinauszublicken», sagt Sarah Springman, seit Januar als Rektorin für die Lehrentwicklung an der ETH zuständig, «dazu gehört, dass sie gekonnt argumentieren, sich ein eigenes Urteil bilden, ihre Haltung reflektiert kommunizieren und insgesamt verantwortungsvoll handeln.»
Innovedum unterstützt Fokusthemen
Über den Innovedum-Fonds unterstützt die ETH Zürich Lehrprojekte, welche
- die Studierenden aktiver einbeziehen oder ihnen Freiräume zur selbständigen Aneignung und Reflektion von Wissen geben (Fokusthema: «Interaktiver und die Eigenverantwortung fördernder Unterricht»);
- verschiedene disziplinäre Perspektiven miteinander in Bezug setzen und die Lehre mit Forschung, Arbeitswelt und Gesellschaft verbinden (Fokusthema: «Inter- und transdisziplinäre Lehrprojekte»).
Bis 1. Oktober 2015 können Dozierende der ETH Zürich im Rahmen der Fokusthemen Lehrprojekte einreichen. Die Projekte werden dann innerhalb eines Monats geprüft.
Weitere Informationen unter: Innovedum Lehr- und Fokusprojekte.