Linien, die die Realität verwischen

Die Graphische Sammlung der ETH Zürich zeigt in ihrer aktuellen Ausstellung Zeichnungen aus den 1950er Jahren, die im Nachlass von Andy Warhol entdeckt wurden. Diese frühen Werke decken überraschende Facetten des bekannten Künstlers auf und geben Einblick in seine ureigene Vorgehensweise, die «blotted-line»-Technik.

Vergrösserte Ansicht: garbo andy warhol
Das berühmte Greta Garbo-Porträt von Edward Steichen gezeichnet von Andy Warhol ist in der Ausstellung zu sehen. (Bild: The Andy Warhol Foundation for the Visual Arts Inc. / 2015, Pro Litteris, Zürich)

Es war ein sensationeller Fund, der im Jahr 2011 vermeldet wurde: Unter den im Nachlass von Andy Warhol verbliebenen Werke, hatte ein Münchner Kunsthändler 400 bislang unbekannte Zeichnungen entdeckt. Beschriftet war die Schublade mit «Archivmaterial». Was sich darin verbarg, waren Werke aus den 1950er Jahren, aus der Zeit also, als Warhol seine ersten Jahre in New York verbrachte und sich mit Illustrationen für Werbeaufträge seinen Lebensunterhalt verdiente. Erst kurz zuvor hatte er sein Studium in Pittsburgh abgeschlossen.  

Sujets aus Magazinen

Was den Fund so aussergewöhnlich machte, war die Tatsache, dass die Zeichnungen bislang unbekannte Aspekte von Warhol zeigten und erstmals die einzelnen Arbeitsschritte seines Schaffens dokumentierten. Schnell wurde klar, dass die Werke allesamt auf Vorlagen beruhen, die der Künstler mit der von ihm entwickelten Kopiertechnik, der sogenannten «blotted-line», zunächst abpauste und dann auf Papier brachte.

Seine Motive fand Warhol in Kulturmagazinen, die in den 1950er Jahren zahlreich aufkamen und die bildreich das verführerische moderne Leben reflektierten. Die Ausstellung in der Graphischen Sammlung der ETH Zürich setzt nun erstmals an die 80 Zeichnungen des Künstlers in Bezug zu den Zeitschriften und einzelnen Originalfotografien. Möglich wurde dies durch eine aufwendige Recherche, im Rahmen derer ein grosser Teil der verwendeten Vorlagen ausfindig gemacht werden konnte. Es zeigte sich, dass Warhol die meisten seiner Sujets im legendären New Yorker Magazin LIFE gefunden hatte, das damals für seine grossen Fotoreportagen bekannt war.

Spielerischer Ansatz für einen Träumer

Mit Originalausgaben des Magazins Life beginnt auch die Ausstellung der Graphischen Sammlung. In der Glasvitrine im Flur vor dem Ausstellungsraum sind einzelne Seiten der Magazine aufgeschlagen und vermitteln den vorbeigehenden Besucherinnen und Besuchern den Eindruck, als würden sie in den Zeitschriften blättern.

«Wir haben uns bewusst entschieden, die Zeitschriften, die Warhol als Primärquelle dienten, nicht direkt neben seine Zeichnungen zu hängen», sagt die Kuratorin Alexandra Barcal. Die Ausstellung sollte nicht zu didaktisch aufgebaut sein. Mit einem eher spielerischen Ansatz wollte die Kuratorin auch dem Künstler gerecht werden: «Andy Warhol war ein Träumer; jemand, der sich verzehrte nach Liebe und Geborgenheit und der mit seiner Kunst auch verführen wollte.»

Vergrösserte Ansicht: Warhol Zeichnung
Die Zeichnung zeigt eine Mutter, die ihr Kind umarmt. Die Vorlage dazu bildete ein Inserat der Jewish Federations of North America. (Bild: The Andy Warhol Foundation for the Visual Arts Inc. / 2015, Pro Litteris, Zürich)

Meister der Reduktion

Was die Kuratorin meint, wird deutlich, wenn man die Werke im Ausstellungsraum betrachtet. Warhol reduziert und ergänzt einzelne Elemente in seinen Zeichnungen. Dadurch manipuliert er gekonnt die Aussagen der Originalbilder. So zeigt eine Zeichnung eine junge Frau, die nachdenklich, vielleicht sogar sehnsüchtig nach oben schaut. Sie könnte in einem Café sitzen und auf jemanden warten. Die Originalfotografie stammt aus dem 2. Weltkrieg und zeigt die junge Frau gemeinsam mit anderen Frauen und Kindern in einem Graben. Es handelt sich um Hopfenpflückerinnen, die sich aus Angst vor einem deutschen Kampfflugzeug in diesem Graben verstecken.

Warhol liess sich auch von bekannten Fotografen inspirieren. So zeichnete er das berühmte Greta Garbo-Porträt des Fotografen Edward Steichen und reduzierte dabei seine Skizze so stark, dass Garbo mit toten Augen wie eine Maske erscheint. Diese Zeichnung, die auch das Sujet des Ausstellungsplakates ist, ist typisch für die Werke Warhols und kann durchaus als Kritik an den damals neu aufkommenden Massenmedien verstanden werden. «Diese Reduktion passt auch gut zum heutigen Zeitgeist», findet Barcal. «In unserer schnelllebigen Zeit, die geprägt ist von sozialen Medien und flüchtiger Aufmerksamkeit, erscheinen Popstars wie leere Hüllen oder eben Masken, die beliebig ausgetauscht werden können», sagt sie.

Andy Warhol ist im Verlauf seiner Karriere als Grafiker, Illustrator, Künstler und Musikproduzent selber zu einem Popstar geworden. Der 1928 geborene und 1987 verstorbene Amerikaner gilt als einer der bekanntesten Künstler der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts.

Vergrösserte Ansicht: Original Life Ausgabe
Das Inserat in der Originalausgabe der Zeitschrift Life vom 2. April 1951. (Bild: The Jewish Federations of North America, Inc.)

Ausstellung und Vernissage

Andy Warhol – the Life years 1949-1959

4. November bis 23. Dezember 2015 und 4. Januar bis 17. Januar 2016
Vernissage: Dienstag, 3. November 2015, ab 18 Uhr

Kunst am Montagmittag: Die Graphische Sammlung lädt montags von 12.30 bis 13.00 Uhr zur Kunstbetrachtung ein.

Anlässlich der Ausstellung erscheint der von der Graphischen Sammlung der ETH herausgegebene Ausstellungskatalog (deutsch/englisch): Andy Warhol – the Life years 1949-1959, mit Texten von Alexandra Barcal, Olaf Kunde und Paul Tanner, München: Hirmer Verlag, 2015; ISBN 978-3-7774-2438-5.

Alle Urheberrechte bleiben vorbehalten. Sämtliche Reproduktionen sowie jegliche andere Nutzungen ohne Genehmigung – mit Ausnahme des individuellen und privaten Abrufens der Werke – ist verboten.

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