Im Land der Tunnel
Die Schweizer sind ein Volk von Tunnelbauern. Mit dem Buch «Tunneling Switzerland» legt nun die «Fachgruppe für Untertagbau» eine umfassende Dokumentation des Schweizer Tunnelbaus vor, in dem sie mehr als 90 Projekte beschreibt.
1707 sprengt Pietro Morettini den ersten Tunnel – das sogenannte Urnerloch – in die Alpen. Seither wurde die Schweiz durchlöchert wie der sprichwörtliche Emmentaler Käse. Nicht zuletzt der politische Wille, Regionen zu verbinden, die durch Berge getrennt sind, hat dazu geführt, dass in all den Jahren über 1300 Tunnel und Stollen mit einer Gesamtlänge von rund 2000 Kilometern entstanden sind. Aufgrund der langen Tradition haben die Schweizer international einen Ruf als hervorragende Tunnelbauer. So wurden nicht nur Grundkonzepte von Schweizer Normen für den Untertagbau weltweit übernommen, die hiesigen Ingenieure beweisen ihre Fähigkeiten auch, indem sie zurzeit den längsten Bahntunnel der Welt bauen.
Perspektive des Ingenieurs
Das Buch «Tunneling Switzerland» stellt 90 Projekte des helvetischen Untertagbaus vor, die in den letzten 15 Jahren fertiggestellt wurden oder sich noch im Bau befinden. «Unsere Absicht war aber nicht, ein Coffee Table Book zu gestalten, sondern die technischen Besonderheiten jedes einzelnen Projekts so hervorzuheben, dass das Buch als Nachschlagewerk dienen kann», erklärt Herausgeber Georgios Anagnostou, Professor für Untertagebau an der ETH Zürich. Aus der Perspektive des Ingenieurs haben knifflige Projekte ihren besonderen Reiz. Anagnostou nennt zum Beispiel die Durchmesserlinie Zürich. «Der Ausbruch unter dem Hauptbahnhof, wo es schon sehr viel bestehende Infrastruktur gibt, und unter der Limmat hindurch, wo die Grundmoräne viel lockeres Material aufweist, war eine einmalige Herausforderung», erzählt der Ingenieur, der an diesem Projekt als Experte beteiligt war.
Grosse Tunnel und kleine Stollen
Den Grossteil der beschriebenen Projekte machen Strassen- und Eisenbahntunnels aus, darunter berühmte Tunnel wie der Ceneri- oder der Gotthard-Basistunnel, aber auch kleine Projekte wie der Tunnel de Moutier. Zu allen Projekten findet man die wichtigsten Kenndaten, eine Situationsbeschreibung, sowie Informationen zur Geologie respektive Hydrologie und zur Bauausführung. Dazu enthält das Buch auch Darstellungen der geologischen Längenprofile, Querschnitte, Landkarten sowie Fotos der Baustellen und der fertigen Tunnel.
Weiter beschreiben die Autoren auch Kraftwerksanlagen mit Schächten und Kavernen grosser Spannweite oder Stollen für den Hochwasserschutz, die nur einen kleinen Durchmesser haben, aber fallweise Lockergestein durchörtern oder einem hohen Druck standhalten müssen. In der Vielfalt von Aufgaben und Projekten sowie in der über 150-jährigen ununterbrochenen Tunnelbauaktivität sieht Anagnostou denn auch das Geheimnis für den Erfolg der Schweizer Tunnelbauer: «In der Schweiz wird unter Städten, im Hochgebirge und im Mittelland unter Tag gebaut. Dabei verändern sich Bedingungen und Anforderungen so, dass die Ingenieure gezwungen sind, ständig nach neuen Lösungen zu suchen.»
Ausbruchsmaterial wiederverwenden
So entwickelt sich der Schweizer Tunnelbau laufend weiter. Die Idee, das Ausbruchmaterial wiederzuverwerten, existiert seit den 50er Jahren. Damals wurde ein kleiner Teil des Materials als Zuschlagstoff für Beton verwendet. Bei der Erstellung des Vereina-Tunnels (1991-1999) wurde der Ausbruch auch als Eisenbahnschotter gebraucht, welcher in der Schweiz begehrt ist (ETH Life berichtete).
Beim Gotthard-Basistunnel sollte noch mehr Material wiederverwendet und die Umwelt dabei möglichst geschont werden. Dabei ging man vor wie bei den Glassammelstellen: Das Material wurde sortiert und nach Brauchbarkeit klassifiziert, gereinigt und dann zu neuem Beton verarbeitet. Sämtlicher Spritzbeton für die Ausbruchssicherung und das gesamte Innengewölbe des Basistunnels wurde aus dem Ausbruchsmaterial vor Ort gewonnen. Rund ein Viertel des Ausbruchs konnte wiederverwendet werden – ein einmaliger Erfolg.
Wichtiges Risikomanagement
Beim Untertagbau gibt es viele Unbekannte und damit auch Risiken. Arbeitsunfälle können nie ausgeschlossen werden, der Baugrund kann eine unerwartet ungünstige Beschaffenheit aufweisen oder die Finanzierung läuft aus dem Ruder. Das war schon bei Morettini so. Zwar konnte er den 64 Meter langen Tunnel bereits nach elf Monaten eröffnen, aber statt der anfangs vereinbarten 1680, kostete das Urnerloch 3080 französische Taler. Heute versucht man den möglichen Gefahren mit einem projektbezogenen Risikomanagement zu begegnen. Anagnostou stellt fest: «Unsicherheiten gehören zum Tunnelbau. Während man früher eher intuitiv an die Risiken herangegangen ist, versucht man heute, Gefahren systematisch zu erfassen, zu kommunizieren und zu reduzieren.»
Literaturhinweis
Tunneling Switzerland. Georg Anagnostou, Heinz Ehrbar (Hrsg.), vdf, 492 Seiten, Format 21.2 x 30 cm, gebunden, CHF 75.00, ISBN 978-3-7281-3547-6