White fever - von der Sehnsucht nach der Weite

«Das weisse Fieber» grassiert bereits seit über 100 Jahren. Ulrike Kastrup erklärt in ihrer ersten Kolumne, woher es kommt und wie ansteckend es ist.

Vergrösserte Ansicht: Schlittenhunde
Mit Schlittenhunden durch den Schnee - Erlebnis pur. (Bild: Fabian Neyer)

Winterzeit – Grippezeit. White Fever? Nie gehört. Was ist das, wo kommt es, her und ist es ansteckend?

In der Tat, ansteckend ist es, hoch ansteckend sogar. Und manchmal springt es auch von Mensch zu Mensch über. Ganze Bevölkerungen waren von ihm Ende des 19. Jahrhunderts infiziert und auch heute tritt es immer wieder auf. Das Weisse Fieber.

Die noch bis 2. Februar im Louisiana Museum bei Kopenhagen gezeigte und sehr sehenswerte Arktis-Ausstellung fasst es so zusammen: "externe SeiteWhite Fever - The Urge to go North." Puuh - also doch kein fieses, unbekanntes neues Fieber, sondern mehr eine Art Zwang? In der Tat, für manchen Abenteurer, der in der Zeit der grossen Nord- und Südpolexpeditionen vor mehr als 100 Jahren aufbrach, um diese unbekannten Welten zu erforschen - getrieben von Träumen, Mystik, Bildern und Ideen - sowie zuweilen frenetisch von seinem Land unterstützt - wurde die Sehnsucht sogar zu einem Wahn, der ihn sich in dieser weissen Welt verlieren liess.

Aber umschreiben wir es für den Hausgebrauch doch einmal als ein Drängen, ein Ziehen, einen Forschungs- und Reisedrang, sich nach Norden zu Begeben in das vormals ewige Eis, in die Schönheit und Weite der Arktis.
Auch wir bei focusTerra sind ein wenig diesem Fieber erlegen. Erst in kleinen, vorsichtigen Schritten, kaum merklich, und dann immer mehr. Während der Vorbereitung unserer Ausstellung im Sommer 2012, über Alfred de Quervains Überquerung des Grönländischen Inlandeises zogen uns die hundertjährigen Bilder und die Entdeckungs- und Forschungsabenteuer immer mehr in ihren Bann. Je mehr wir in die Materie eintauchten, desto klarer wurde es, wir wollten selber mit eigenen Augen die Menschen und die Landschaft sehen, die Arnold Heim damals auf seinen Fotos festgehalten hat.

Mit unserem grönländischen Freund vor Ort stürzten wir uns in Reisevorbereitungen, bis es im Frühjahr 2013 so weit war. Wir, das focusTerraTeam, und weitere vier Freunde, begaben uns auf die Spuren der Grönlandentdecker - dem Wikinger Erik der Rote, dem Norweger Fridtjof Nansen und dem Deutschen Alfred Wegener, um nur einige zu nennen.
Und das ging natürlich nicht ohne Hundeschlittenfahrten. Was für ein Erlebnis! Nach erster ethisch motivierter - und wie wir schnell lernten, hier gänzlich falscher und unangebrachter Zurückhaltung - liessen wir uns in Eisbärhosen und Seehundjacken warm verpacken – wir sollten es in der Kälte nicht bereuen - und los ging’s.

Bei Sicht unter 20 Metern wagten wir uns in professioneller Jäger-Begleitung auf das bereits an einigen Stellen ungewöhnlich früh geschmolzene Meereis vor Uummannaq an der Westküste Grönlands. Vor uns zogen die Schlittenhunde so schnell es ging und kämpften sich durch den dicht fallenden Schnee. Wir konnten nicht viel machen, als uns voller Vertrauen zurückzulehnen und die Fahrt zu geniessen. Und dies taten wir. Zunächst ohne Sicht, am zweiten Tag bei herrlich blauem Himmel, glitten wir über Schnee und Eis und genossen jede Minute in vollen Zügen. Neugierig hielten wir nach Eisbären, Schneehasen- und füchsen, Seehund und Narwal aus – zu sehen bekamen wir allerdings nur Heilbutt – und den in jeder Variation – erst frisch aus dem Eisloch gezogen, dann gefroren auf dem Eis verpackt, später beim Essen dann in Essig eingelegt, gebraten, gekocht, geräuchert, ge-alles. Bis ich mich nach Kartoffeln sehnte.

Nach diesen Ausflügen war es dann bereits sichtlich, nach Ende unserer 10-tägigen Reise vollends um uns geschehen: Das weisse Fieber hatte uns gepackt. Die Faszination für dieses sich immer in Bewegung befindende Land, die Grösse, Weite und Unermesslichkeit des Eises, die vor unserem Fenster vorbei treibenden Eisberge und Eisschollen, so dass sich in jedem Moment eine andere Aussicht bietet – hatte seinen Bann über uns gelegt und das Verlangen, diese einmalige und zerbrechliche, heute von Klimawandel und Rohstoffausbeute bedrohte Welt, zu erhalten. Spricht man mit den Forscherinnen und Forschern an der ETH und an der Universität Zürich, die in diesen hohen Breitengraden arbeiten, so erscheint es ihnen nicht anders zu ergehen. Und wann immer man von Grönland erzählt, blitzt es in den Augen voller Sehnsucht und Freude auf – und vielleicht manchmal auch ein kleines bisschen fiebrig…

Zur Person

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Ulrike Kastrup

Ulrike Kastrup leitet seit rund fünf Jahren focusTerra, das erdwissenschaftliche Forschungs- und Informationszentrum der ETH Zürich. Sie studierte an den Universitäten Bonn und Zürich Geologie und promovierte beim Schweizerischen Erdbebendienst im Institut für Geophysik an der ETH Zürich. Anschliessend forschte und arbeitete sie im Bereich des Risikomanagements und der Risikokommunikation bei Naturgefahren an der United Nations University in Bonn, am RMIT in Australien und als Corporate Risk Managerin bei der SBB. Mit den zahlreichen Ausstellungen und Aktivitäten in focusTerra möchten Ulrike Kastrup und ihr Team einem breiten Publikum die Faszination und Schönheit der Geologie und ihre Rolle in unserem Alltag vermitteln.

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