Huat Ah!
Das chinesische Neujahrsfest in Singapur entpuppt sich für Kolumnistin Marta Heisel-Wisniewska als kulturelle Bereicherung im Berufs- und im Privatleben.
Mögen deine Herzenswünsche in Erfüllung gehen. - Chinesisches Sprichwort zum Neuen Jahr
Als ich vor rund drei Wochen nach langer Abwesenheit zurück nach Singapur kam, erwartete mich nur ein leerer Kühlschrank. Ich wollte ihn rasch wieder auffüllen, doch Fehlanzeige: Die Shopping-Center waren geschlossen, die öffentlichen Plätze wie leergefegt – ein ziemlich beklemmendes Gefühl in einer Stadt, die zu den quirligsten Shopping-Metropolen Asiens zählt. Doch dann die Einsicht: Heute Abend feiern wir ja das chinesische Neujahrsfest!
Im chinesischen Lunisolarkalender ist das Neujahrsfest der wichtigste Feiertag des Jahres. Es vereint die Quintessenz von Erntedankfest, Weihnachten und Neujahrsfest und wird als Familienfest mit köstlichen Speisen und prunkvollen Zeremonien begangen.
Bestimmt wird sein Datum vom Lunisolarkalender – oder besser gesagt, vom ersten Neumond im letzten Monat des alten Jahres. Zwei Wochen lang wird ausgelassen gefeiert, bis zum krönenden Abschluss: dem Laternenfest. Viele jahrhundertealte Bräuche und Traditionen prägen diese ganz besondere Zeit und einige davon haben mich echt fasziniert.
Neujahrsmonster und Drachentanz
Einer alten Legende zufolge war es die Vertreibung eines Monsters, die das Neue Jahr einst einläutete. Sein Name war Nian. Einmal im Jahr verliess das Monster sein Versteck und suchte die Menschen in den Dörfern heim. Es verbreitete Angst und Schrecken. Auf seinen Streifzügen verschlang es Vieh, Erntevorräte und sogar Kinder. Um die Kinder vor ihm zu schützen und das Monster zu beschwichtigen, stellten die Dorfbewohner Speisen und kleine Köstlichkeiten vor ihre Haustüren.
Die Rettung kam, als man herausfand, dass das Monster keine roten Farben und keinen Lärm ertrug. So kam es, dass eine Gruppe Wagemutiger in roten Gewändern mit lautem Trommelwirbel das Monster erfolgreich vertrieb. Zum Gedenken an diesen Sieg und zur Feier der neuen, friedlichen Ära tragen die Menschen seitdem zum chinesischen Neujahrsfest rote Kleidung und lassen die Feuerwerkskörper krachen.
Ein weiteres mythologisches Wesen, der Drache, ist das Symboltier Chinas. Er wird für seine Kraft und Furchtlosigkeit bewundert und gleichzeitig als Glücksbringer, Wohlstands- und Fruchtbarkeitsspender verehrt. Der traditionelle Drachentanz wird am chinesischen Neujahrsfest aufgeführt, um den Zuschauern die Tugenden des Drachens nahezubringen.
Zwei Wochen lang reisen Tänzergruppen von Ort zu Ort und bieten ihre spektakulären Tanzaufführungen dar. Grosse Geschicklichkeit ist gferagt, um die meterlangen Drachenfiguren in synchronen Tanzbewegungen auf ihren Holzstäben zum Leben zu erwecken. Je länger die Drachen und je komplizierter die Choreografie sind, umso mehr Glück bringt das fürs Neue Jahr.
Rote Briefumschläge und Mandarinen
Am chinesischen Neujahrsfest kommt die ganze Familie zusammen. Es wird grosser Wert darauf gelegt, dass man alle Verwandten besucht – wenn nicht zu einem Festmahl, dann aus Höflichkeit. Bei diesen Treffen tauschen die Familienmitglieder zwei symbolische Geschenke aus: rote Briefumschläge und Mandarinen.
Kinder und ledige Erwachsene erhalten einen Geldumschlag, der sie vor Nian beschützen soll. Dabei gilt folgende Regel: Der Geldbetrag darf unter keinen Umständen die Zahl 4 enthalten, denn deren Aussprache klingt im Chinesischen sehr ähnlich wie das Wort für Tod, und das wäre ein Unglücksbringer. Die Zahl 8 hingegen bringt Wohlstand – je mehr, umso besser!
Das zweite Geschenk sind ein Paar Mandarinen. Sie stellen Goldtaler dar und sind ein Symbol für Glück und Wohlstand. Der Austausch dieser Geschenke findet jedoch nicht nur im Familienkreis statt: Es ist nichts Ungewöhnliches, auch vom Kassenpersonal im Supermarkt, von einem netten Taxifahrer, einem fremden Fahrgast im Bus oder sogar von dem Priester einer katholischen Kirche ein paar Mandarinen geschenkt zu bekommen.
Huat Ah!
Am schönsten wird ein Urlaub vor Ort, wenn man ihn im Freundeskreis verbringt. Mir wurde die Ehre zuteil, am traditionellen chinesischen Neujahrsfestmahl teilzunehmen, und ich legte mich dafür schwer ins Zeug: rote Kleidung, Mandarinen und ein paar Münzen für die Gesellschaftsspiele.
Einer der Höhepunkte des Abends war der traditionelle Fischsalat: Er heisst Yusheng und ist mehr als ein Festessen, denn auch er bringt der ganzen Familie Glück und Wohlstand. Buntes, geraffeltes Gemüse wird in kleinen Häufchen am Tellerrand aufgeschichtet, dann kommen nach und nach köstliche Speisen wie zum Beispiel frische Fischgerichte, Crackers, Sauce etc. in die Tellermitte. Jedes Mal rufen alle laut «Huat ah!», was soviel heisst wie «Möge es Erfolg bringen!».
Sobald der ganze Teller gefüllt ist, greifen alle Gäste zu ihren Essstäbchen und werfen den Fischsalat im hohen Bogen in die Luft! Das mag verrückt erscheinen – doch in der Tat soll der Yusheng unter anderem auch Überfluss symbolisieren. So müssen die verschiedenen Zutaten schön rund um den Teller herum verkleckert werden… Dieses Ritual ist auch als «Wohlstandswurf» bekannt.
Es sind Begebenheiten wie diese, die mein Leben und meine Arbeit in fernen Ländern bereichern. So konnte ich während meiner Tätigkeit am Future Cities Laboratory in Singapur nicht nur wertvolle Berufserfahrungen als Forscherin sammeln, sondern auch viel von meinem Austausch mit den Einheimischen lernen, sei es kulturell, sei es in Bezug auf ihre Bräuche und Traditionen.
Die Teilnahme am chinesischen Neujahrsfest hat mir gezeigt, wie warmherzig und offen die Menschen in Singapur sein können, was im Gegensatz zu ihrer strikten und zielorientierten Arbeitsweise steht. Diesen wertvollen Erfahrungsschatz kann ich nun sowohl in mein Privatleben als auch beruflich mit einfliessen lassen.
Zur Person
Marta Heisel-Wisniewska ist derzeit als Forscherin am Future Cities Laboratory (FCL) in Singapur im Auftrag der Professur für Architektur und Bau tätig. Von 2004 bis 2011 studierte sie am Departement Architektur und Städteplanung der Westpommerschen Technischen Universität Stettin (ZUT) in Polen sowie am Departement Architektur der Hochschule für Künste in Berlin. Bevor sie zum FCL nach Singapur berufen wurde, war sie Dozentin und Koordinatorin des Architekturprogramms am Äthiopischen Institut für Architektur, Bauwesen und Städteentwicklung in Addis Ababa, wo sie Mitglied einer Forschungsgruppe war, die sich mit dem Design von Flüchtlingsauffangeinrichtungen befasste. Für ihr Engagement wurde sie von EiABC-Studentenrat im Jahr 2011 mit dem «Best Teaching Award» ausgezeichnet.
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