Von Bergün bis Singapur – die Standorte der ETH
Die ETH Zürich ist nicht nur in Zürich vertreten, sondern weltweit an rund 20 Standorten. Dass sie auch in Graubünden, in der Nordwestschweiz und sogar in Asien Standorte betreibt, scheint im wahrsten Sinn des Wortes nicht naheliegend zu sein. Und doch gibt es gute Gründe dafür.
Inmitten von Wiesen, Feldern und Wäldern stand vor 60 Jahren das Baugespann für ein neues Kernphysikgebäude. Damit begann die erste Bauetappe einer «zentrumsnahen Aussenstation» der ETH auf dem Hönggerberg, die den wachsenden Platzbedarf im Zentrum decken sollte. Die Erschaffung des zweiten Campus war ein Meilenstein in der Geschichte der ETH – lange jedoch wurden die beiden Campus nicht als Einheit wahrgenommen. Dass sie heute zusammengewachsen sind, ist nicht zuletzt der direkten Busverbindung mit dem ETH Link zu verdanken.
Die beiden Campus, die die ETH am Hauptstandort Zürich betreibt, machen zusammen rund 90 Prozent der Gesamtfläche aller ETH-Standorte aus. Die Konzentration auf den Hauptstandort erfolgt bewusst: Dadurch soll der physische Austausch der Mitarbeitenden vor Ort, das inter- und transdisziplinäre Arbeiten und der Zusammenhalt von Zentrum und Hönggerberg gefördert werden. Zudem sind grosse Standorte besonders wirtschaftlich zu betreiben.
Wie ein neuer Standort entsteht
Der Input für einen neuen Standort kommt meist aus der Forschung. Will sich die ETH in einem Forschungsbereich weiterentwickeln, wird als Erstes geprüft, ob dies an einem der beiden Campus möglich ist. Kriterien sind zum Beispiel die Anforderungen an die Gebäude, Gegebenheiten des Standorts selber, aber auch die Zusammenarbeitsmöglichkeiten mit Forschungspartnern. Nur, wenn sich weder im Zentrum noch am Hönggerberg eine Lösung abzeichnet, kann ein weiterer Standort in Betracht gezogen werden. Die Abteilung Immobilien evaluiert mögliche Standorte, den Entscheid fällt in der Regel die Schulleitung, in seltenen Fällen der ETH-Rat.
Agrarforschung mit Praxisbezug
Typische Beispiele sind etwa autonomes Fahren oder Drohnenflüge – für solche Forschungsrichtungen sind die Bedingungen am Hauptstandort räumlich nicht gegeben. Dafür fanden sich auf dem Gelände des ehemaligen Flugplatzes Dübendorf genügend grosse Hallen und Testflächen. Doch auch akademische Faktoren spielen eine Rolle, wenn ein neuer Standort entsteht: Vor rund 15 Jahren fällte die ETH Zürich den strategischen Entscheid, die Agrarwissenschaften zu stärken. Zusammen mit dem Strickhof, dem Kompetenzzentrum für Landwirtschaft und Ernährung des Kantons Zürich, und der Universität Zürich wurde daraufhin AgroVet-Strickhof gegründet. Mit der neuen Büro- und Forschungsinfrastruktur sollte einerseits der Standort Lindau gestärkt werden, wo die ETH bereits seit den 70er-Jahren mit der Forschungsstation für Pflanzenwissenschaften vertreten ist, und andererseits die Vernetzung zwischen universitärer Forschung und landwirtschaftlicher Praxis gefördert werden.
Dass der direkte Bezug zur landwirtschaftlichen Praxis in der Stadt Zürich weitgehend fehlt, liegt auf der Hand. Aber weshalb braucht es gleich drei Vertretungen in der Schweiz? Mit den unterschiedlichen geografischen Lagen kann AgroVet-Strickhof alle für die Schweizer Landwirtschaft relevanten Höhenstufen abdecken. So eignet sich der Betrieb Früebüel im Kanton Zug wegen seiner Lage auf 1000 m ü. M., um Forschungsfragen im Zusammenhang mit Landwirtschaftsbetrieben im Voralpenraum zu untersuchen. Erforscht wird etwa, wie sich die Fütterung auf den Stoffwechsel von Mutterkühen auswirkt. Auf der Forschungsstation Alp Weissenstein der Bündner Gemeinde Bergün übersommern die Kühe. Dank dieses zusätzlichen Standorts auf über 2000 m ü. M. können die Auswirkungen der alpinen Höhenlage auf die Gesundheit und die Leistung der Tiere untersucht werden.
Die Forschenden nutzen die Standorte als Plattform für ihre Projekte und können die Infrastruktur nach Bedarf in Anspruch nehmen. Dabei profitieren sie sowohl vom Service, den der Strickhof für das ganze landwirtschaftliche Zentrum in Lindau erbringt, als auch von den Dienstleistungen an den Campus-Standorten Zentrum und Hönggerberg.
Standort versus Campus
Durch ein Vollangebot an Lehre, Forschung, Wissenstransfer und ebendiesen Dienstleistungen zeichnet sich nämlich ein Campus gegenüber anderen ETH-Standorten aus. Dazu zählen auch Verpflegungs- und Freizeitangebote. Die ETH verfolge bewusst eine Zwei-Campus-Strategie mit Hauptstandort Zürich, betont Ulrich Weidmann, Vizepräsident für Infrastruktur: «Je grösser ein Standort ist, desto einfacher können wir gute Serviceleistungen anbieten, bei kleinen Standorten fehlt dafür die kritische Masse.» Die Fokussierung auf zwei Campus zahle sich auch finanziell aus; so könnten am Hönggerberg Heizung oder Logistik viel effizienter und damit auch ökologischer betrieben werden.
Nur wenige Standorte verfügen über eigene Personal- oder IT-Verantwortliche. Dazu zählen das Swiss National Supercomputing Centre im Tessin, das Singapore-ETH Centre oder der Standort Basel. Obwohl in Basel auch Lehre und Forschung betrieben werden, gilt der Standort nicht als Campus, denn ein solcher umfasst immer mehrere Departemente.
Themencluster Life Sciences
Mit der benachbarten Pharmaindustrie, der Universität Basel und ihren Spitälern bieten sich den Forschenden des Departements Biosysteme (D-BSSE) in Basel ideale Voraussetzungen für interdisziplinäre Projekte in den Bereichen Medizin und Life Sciences. Die Partnerorganisationen wiederum profitieren von der Kompetenz in den Ingenieurs- und Datenwissenschaften, die die ETH an den Standort Basel bringt. Beispiele dafür sind die gemeinsame «Basel Personalized Health Initiative» im Bereich der Personalisierten Medizin und das «Botnar Research Center for Child Health» von D-BSSE und Universität Basel.
Am einzigen ETH-Departement ausserhalb des Hauptstandorts Zürich arbeiten und lernen rund 300 Mitarbeitende, 20 Professoren und über 300 Masterstudierende und Doktorierende. Welche Herausforderungen stellen sich dem Departement aufgrund seiner speziellen Lage? «Forschung in Basel wird noch zu wenig mit der ETH Zürich in Verbindung gebracht», sagt Niko Beerenwinkel, Vorsteher des D-BSSE. «Wir möchten die ETH darum noch besser sichtbar machen. Umgekehrt wollen wir den Standort Basel an der ETH Zürich bekannter machen und Möglichkeiten für Forschungskooperationen aufzeigen.» Zur Stärkung der ETH-Präsenz in Basel wird der Neubau BSS beitragen, der 2022 bezogen wird. Das Forschungs- und Lehrgebäude wird alle Forschungsgruppen des D-BSSE in unmittelbarer Nähe zu wichtigen Partnern unter einem Dach vereinen.
Globale Herausforderungen in Asien
Während das D-BSSE rund 80 Kilometer vom Hauptstandort trennt, liegen zwischen Zürich und dem einzigen ETH-Standort ausserhalb der Schweiz mehr als 10'000 Kilometer. Mitten in Asien, im pulsierenden Stadtstaat Singapur, entstand vor zehn Jahren das Singapore-ETH Centre for Global Environmental Sustainability (SEC). Hier kann die ETH Forschung betreiben, um ökologisch nachhaltige Lösungen für globale Herausforderungen zu entwickeln. Beispiele hierfür sind die Urbanisierung, die in Asien sehr schnell voranschreitet, die Resilienz komplexer gesellschaftlicher und Infrastruktur-Systeme oder die Entwicklung neuer Gesundheitstechnologien. Die Inter- und Transdisziplinarität, die alle Forschungsprojekte am SEC auszeichnet, wird im CREATE Tower besonders gefördert: Mehr als 1000 Forschende von Spitzenuniversitäten wie Cambridge, MIT, Berkely oder der National University of Singapore NUS arbeiten hier auf engstem Raum zusammen. Für HR, Finanzen, Infrastruktur und Kommunikation hat das SEC vor Ort ein Team aufgebaut, in dem grösstenteils Bürgerinnen und Bürger aus Singapur arbeiten. Für die Forschungsadministration jedoch ist die ETH in Zürich zuständig.
Die grosse Distanz zum Hauptstandort konnte das SEC dank Telekommunikation schon Jahre vor der Corona-Krise gut überbrücken. Um Flugreisen zu reduzieren, versucht das SEC, die Präsenzzeiten an beiden Standorten jeweils zu verlängern. «Die fast perfekte virtuelle Kommunikation zwischen den Standorten täuscht jedoch oft darüber hinweg, dass grosse klimatische, kulturelle oder politische Unterschiede existieren», sagt Gerhard Schmitt, Leiter des Singapore-ETH Centre bis September 2020. «Diese Herausforderung macht aber auch den Reiz des Lebens und Arbeitens in Singapur aus.»
Ein Blick in die Zukunft
Die ETH Zürich will und soll trotz beschränktem Platzangebot am Hauptstandort auch in Zukunft neue Forschungsbereiche erschliessen können. Die grösste Herausforderung werde dabei sein, das akademische Wachstum zeitnah mit Liegenschaften unterstützen zu können, so Ulrich Weidmann. Zurzeit verhandelt die ETH mit der Stadt Zürich über Sonderbauschriften, damit der Campus Hönggerberg weiter ausgebaut werden kann. Zudem wird der Umzug der Schulleitungsbereiche Infrastruktur sowie Personalentwicklung und Leadership an den Standort Octavo Oerlikon Flächen für die Forschung im Campus Zentrum freispielen.
Und wie sieht es bei den Standorten aus – rechtfertigt sich der Aufwand für Betrieb und Koordination? «Ja, denn durch die Konzentration auf den Hauptstandort befinden sich aufwendige Infrastruktur und Labors vorwiegend in Zürich», sagt Weidmann. «Wenn es die weiteren Standorte nicht gäbe, könnte die ETH viele Forschungsbereiche gar nicht betreiben.»