«Präsenzprüfungen sind an der ETH Zürich unerlässlich»
Die Lehrveranstaltungen des Herbstsemesters waren geprägt von Online-Unterricht. Sie dauern noch drei Wochen, dann stehen die Prüfungen an. Hermann Lehner, Leiter der Akademischen Dienste, erklärt, weshalb Präsenzprüfungen an der ETH unerlässlich sind und wie diese ablaufen.
Herr Lehner, im Herbstsemester war die ETH angesichts der hohen Covid-19-Fallzahlen in der Schweiz gezwungen, weitgehend auf Online-Unterricht umzustellen. Werden auch die Prüfungen remote stattfinden?
Wie bereits im Sommer wird es eine ganze Reihe von Prüfungen geben, die remote stattfinden. Dazu gehören viele Semesterendprüfungen, auch solche die normalerweise schriftlich stattfinden. Hinzu kommen mündliche Prüfungen, wenn dies die Situation der Kandidaten oder der Examinatorinnen erfordert. Beispielsweise, weil sie einer Risikogruppe angehören. Doch für die schriftlichen Sessionsprüfungen ist eine Präsenz unerlässlich.
Weshalb muss die ETH diese Prüfungen in Präsenz durchführen?
Zum einen, weil wir die Leistungen fair bewerten wollen, zum anderen aber auch, weil wir aus Qualitätsgründen sicher gehen wollen, dass tatsächliche Lernleistungen bewertet werden.
Was meinen Sie in diesem Zusammenhang mit Fairness?
Bei vielen Sessionsprüfungen handelt es sich um high-stakes Prüfungen, das heisst, sie haben eine grosse Bedeutung für das weitere Studium. In vielen Fällen ist ein Bestehen die Voraussetzung für ein Weiterstudieren an der ETH. Hier ist es wichtig, dass wir eine sehr kontrollierbare Prüfungssituation schaffen können, um allen Studierenden die gleichen Möglichkeiten zu bieten, das Gelernte unter Beweis zu stellen.
Und wie sind die tatsächlichen Lernleistungen zu verstehen, die Sie prüfen wollen?
Nun, es wäre ja denkbar, auch schriftliche Prüfungen remote durchzuführen, so wie das andere Universitäten in diesem Sommer bereits gemacht haben. Auch wenn die überwiegende Mehrheit der Studierenden ethische Werte hochhält, hat sich gezeigt, dass die Verlockung gross ist, die Resultate mit technischen Hilfsmitteln zu verbessern oder mit Mitstudierenden zu kommunizieren. Es ist in unserer Verantwortung, dies möglichst zu verhindern, auch dies gehört zur Fairness. Denn wir müssen den hohen Wert eines ETH-Abschlusses garantieren können. Zwar kommen auch an der ETH verschiedene Proctoring-Lösungen zur Überwachung der Kandidaten zum Einsatz – beispielsweise bei den oben erwähnten Semesterendprüfungen. Doch bei den Sessionsprüfungen mit vielen Kandidaten resultieren keine zufriedenstellenden Ergebnisse, die unseren Qualitätsansprüchen genügen.
Bei den Präsenzprüfungen werden sich viele Studierende in einem Raum aufhalten. Lassen das die geltenden BAG-Regeln überhaupt zu?
Prüfungen sind integraler Bestandteil der Lehrveranstaltungen. Diese dürfen in Präsenz stattfinden, wenn es darum geht, die Ausbildungsqualität zu gewährleisten. Voraussetzung dafür ist natürlich ein rigid durchgesetztes Schutzkonzept. Die Prüfungssession im Sommer war ein sehr guter Testlauf für die kommende Wintersession – wir sind bereit. Wenn wir Prüfungen in der Session nicht in Präsenz durchführen könnten, würden viele Studierende ein Studienjahr verlieren. Und das wollen wir unter allen Umständen vermeiden.
Kommen wir auf das Schutzkonzept zu sprechen. Wie sieht dieses aus?
Grundsätzlich ist es das gleiche Schutzkonzept, das sich im Sommer bestens bewährt hat. Mit gestaffelten Startzeiten der Prüfungen, damit nicht alle Studierenden gleichzeitig auf dem Campus erscheinen, und Pufferzonen vor den Eingängen, damit die Distanzregel jederzeit eingehalten werden kann. Die Einhaltung der Distanzregel gilt selbstverständlich auch in den Prüfungsräumen. Neu kommt im Winter eine allgemeine Maskenpflicht hinzu – auf dem Campus, aber auch während der Prüfungen. Uns ist bewusst, dass es unbequem ist, während Prüfungen eine Maske zu tragen – richtig umgesetzt ergibt sich aber daraus kein Nachteil.
Zur Person
Hermann Lehner ist seit dem 1. Juli 2020 Leiter der akademischen Dienste an der ETH. Er promovierte 2011 in Informatik, zudem war er Präsident des Fachvereins Informatik. Seit 2016 doziert er am Departement Informatik und ist Studienkoordinator. Neben seiner Lehrtätigkeit entwickelte er die innovative Lernplattform «Code Expert», welche von Studierenden fast aller Departemente genutzt wird.
Eine Besonderheit der Prüfungen im Sommer war, dass nicht bestandene Leistungskontrollen annulliert wurden. Gilt diese Regel auch für die kommende Prüfungssession?
Leider muss ich da die Hoffnung vieler Studierenden enttäuschen. Die Rektorin hatte diese ausserordentliche Massnahme für die Prüfungen im Sommer erlassen, weil der Unterricht im Frühling über Nacht umgestellt werden musste. Diese Umstellung betraf die gesamte Lebenssituation der Studierenden. Sie konnten nicht mehr an die ETH kommen, um zu lernen. Es war aber zum Zeitpunkt des Entscheids auch völlig unklar, ob gewisse Lehreinheiten wie Laborunterricht nachgeholt werden können. Ziel dieser Massnahme war es, die Studierenden zu ermutigen, ihren Ausbildungsweg trotz der widrigen Umstände und aller Ungewissheiten im Rahmen des Möglichen fortzusetzen. Heute stehen wir vor einer ganz anderen Situation. Bereits vor Einschreibung in das Herbstsemester war klar, dass ein grosser Teil der Lehrveranstaltungen online stattfindet, und wir haben auch kommuniziert, dass mit einer weiteren Umstellung auf Online-Unterricht gerechnet werden muss. Wir befinden uns in einem geregelten Studienbetrieb und haben ein breites Beratungs- und Betreuungsangebot spezifisch für die aktuelle Situation. In der aktuellen Situation wäre eine automatische Annullierung von nicht bestandenen Leistungskontrollen eine unfaire Bevorteilung gegenüber früheren und kommenden Jahrgängen.
Allerdings ist davon auszugehen, dass einige Studierende nicht an die Prüfung kommen können, weil sie sich in Quarantäne befinden. Was sieht die ETH für diese Studierenden vor? Können Sie die Prüfung nachholen?
Wir haben im Rektorat tatsächlich bereits verschiedene Anfragen besorgter Studierender erhalten, und es wurde auch eine Petition eingereicht, die für diesen Fall Nachprüfungen fordert. Wir haben grosses Verständnis für das Anliegen. Bei mündlichen Prüfungen ist das kein Problem; sie können remote durchgeführt werden. Semesterendprüfungen finden auch oft remote statt, ausserdem ist es in vielen Fällen möglich, die Prüfung am Anfang des Frühjahrssemesters zu wiederholen. Doch aus den eingangs erwähnten Fairnessüberlegungen können wir schriftliche Sessionsprüfungen nicht für einzelne Studierende in mündliche umwandeln – auch hier würden wir eine starke Bevorteilung einführen: Eine halbstündige mündliche Prüfung kann nicht dieselbe Messung bewerkstelligen wie eine mehrstündige schriftliche Leistungskontrolle. Aus organisatorischen Gründen ist es ausserdem nicht möglich, eine gleichwertige schriftliche Ersatzprüfung in derselben Session anzubieten. Das Erstellen einer schriftlichen Prüfung erfordert einen Aufwand von zwei bis drei Wochen Vollzeit – diese Zeit steht nicht zur Verfügung.
Was empfehlen Sie den Studierenden für die Ablegung der Prüfungen diesen Winter?
Wir wollen unter allen Umständen verhindern, dass Studierende mit Krankheitssymptomen oder bei Quarantäne an Prüfungen erscheinen. So raten wir allen Studierenden dringend, im Vorfeld der Prüfungssession ungeschützte enge Kontakte zu vermeiden – also das Gleiche, das der Bundesrat allen Bewohnerinnen und Bewohnern vor dem Weihnachtsfest empfiehlt, damit Familien gemeinsam feiern können. Falls sich jemand dennoch in Quarantäne begeben muss oder Krankheitssymptome aufweist, kann er oder sie sich bis eine Stunde vor Prüfungsbeginn unbürokratisch von einzelnen Prüfungen abmelden – ohne schriftlichen Nachweis. Eine Besonderheit stellen sogenannte Prüfungsblöcke dar, die eine Reihe von Prüfungen beinhalten, die insgesamt bestanden werden müssen. Falls jemand im Laufe der vierwöchigen Prüfungssession für 10 Tage in Quarantäne muss und nur einen Teil der Prüfungen des Blocks ablegen kann, werden die abgelegten Prüfungen angerechnet. Die restlichen Prüfungen können zum Repetitionstermin nachgeholt werden.
Lassen Sie uns zum Schluss noch einen Blick zurückwerfen: Wie ist die Prüfungssession im letzten Sommer verlaufen?
Kurz gesagt: Rundum erfreulich. Es war zwar ein riesiger Kraftakt, das Schutzkonzept auf die Beine zu stellen und umzusetzen, doch es hat sich gelohnt. Trotz der widrigen Umstände während des Semesters und der Ausnahmeregelung zu den Fehlversuchen sind vergleichbar viele Studierende zu den Prüfungen angetreten wie in den Vorjahren. Auch die gezeigten Leistungen entsprachen jenen der Vorjahre. Wir haben sogar festgestellt, dass Studierende teilweise besser in der Lage waren, sich auf die Prüfungen vorzubereiten, da mehr Lehrmaterial (Videoaufzeichungen, Unterlagen etc.) verfügbar war und eine bessere individuelle Planung ermöglichte. Wir haben also keinerlei Hinweise, dass die Wissensvermittlung und Studienleistung generell gelitten haben.