Den Schweizer Humboldt dekonstruieren

Vom 15. Dezember 2024 bis 18. August 2025 läuft im Muséum d’histoire naturelle Neuchâtel die von Forschenden der ETH Zürich kuratierte Ausstellung «Naming Natures». Sie wirft einen kritischen Blick auf naturhistorische Sammlungen aus kolonialen Zeiten und kombiniert wissenschaftliche, historische und künstlerische Ansätze.

Muster

1838 segelte der Schweizer Naturforscher Johann Jakob von Tschudi (1818-1889) im Auftrag des Muséum d’histoire naturelle Neuchâtel (MHNN) nach Peru. Während der beinahe fünfjährigen Reise jagte, erlegte und präparierte er über 600 Tiere, die noch heute im MHNN aufbewahrt werden. Eine damals übliche Sammel- und Wissenschaftspraxis, die viele europäische Museen angewendet haben und dadurch noch heute über koloniale Sammlungen verfügen.

Eine Ausstellung zu Johann Jakob von Tschudi

Wie sich Wissenschaftler:innen, oft ohne Rücksicht auf das indigene Erbe, in dieser Weise Exponate angeeignet haben, zeigt die Ausstellung «Naming Natures – Natural History and Colonial Legacy». Kuratiert wird sie von Tomás Bartoletti und Denise Bertschi. «Bei aller Kritik, die wir aus heutiger Sicht anbringen, war von Tschudi aber ein Kind seiner Zeit. Europäer:innen haben sich allen anderen Völkern schlichtweg überlegen gefühlt», sagt Bartoletti, der sich seit 2017 mit von Tschudi auseinandersetzt. Das Interessante an von Tschudi ist, dass er nicht nur Zoologe und Jäger, Reiseschriftsteller und Linguist war, sondern ebenso Diplomat und mit seinen engen Kontakten zur Wirtschaft eine tragende Rolle in der Beziehung der Schweiz zu Lateinamerika spielte. Das macht von Tschudi zu einer der prägendsten Persönlichkeiten der Geschichte zwischen der Schweiz und Lateinamerika.

Ein Teil seines Nachlasses ist ab 15. Dezember 2024 im MHNN zu sehen. Zu den Ausstellungsstücken zählen präparierte Tiere und archäologische Fundstücke, aber auch Illustrationen und Briefe. Materielle Beweise und Zeugnisse, welche Gewaltprozesse in damaligen wissenschaftlichen Expeditionen steckten. «Was einst unbestritten akzeptiert wurde, hat das Fundament der europäischen wissenschaftlichen Autorität tiefgreifend geprägt und bildet das Erbe, aus dem die Wissenschaft letztlich hervorgeht», sagt Bartoletti. Mit seiner Forschung versucht er, Gegenerzählungen zu den «grossen Männern der Wissenschaft» zu liefern, indem er indigene Perspektiven einbezieht, um so den Eurozentrismus zu überwinden.

Mit Kunst den Kolonialismus neu definieren

Bereits 2019 startete Bartoletti das Projekt «Swiss entanglements in nineteenth century Latin America: Johann Jakob von Tschudi’s voyages, translocated practices of knowledge and the construction of Andean Indigeneity». «Die Herausforderung war, die daraus resultierenden Forschungsergebnisse in eine Ausstellung zu bringen», sagt er. Dafür hat er eng mit Denise Bertschi zusammengearbeitet, die für ihre künstlerische Forschungspraxis bekannt ist und sich im Rahmen ihres Doktorats bereits mit Schweizer Kolonialität befasste. «Insgesamt haben wir vier Jahre an der Ausstellung gearbeitet», sagt Bertschi.

Herausgekommen ist eine transdisziplinäre Arbeit, die sowohl Geschichte, Konservierung, Bildende Kunst und Biologie mit einbezieht und vom Schweizerischen Nationalfonds (SNF) im Rahmen des Förderinstruments «Agora» mit der Höchstsumme unterstützt wurde. Die Ausstellung zeigt Kunstwerke von insgesamt 13 Künstler:innen aus Lateinamerika und der Schweiz. Einige kamen selbst nach Neuchâtel und haben sich die originalen Tierpräparate angeschaut, andere haben auf Basis des Buches «Fauna Peruana», einer zoologischen Abhandlung, die von Tschudi nach seiner Rückkehr 1844 geschrieben hat, gearbeitet. Wiederum andere beziehen sich auf sein rassistisches Weltbild, das von Tschudi in seinen Briefen vertrat. Bertschis kuratorisches Ziel war es, koloniale Narrative mit den Mitteln der Kunst kritisch zu reflektieren und zu dekonstruieren.

Verantwortung für unser koloniales Erbe

Auf diese Weise können die umstrittenen Exponate auch in heutiger Zeit noch gezeigt werden. «Naturkundemuseen müssen sich mit ihrer Vergangenheit auseinandersetzen», sagt Bertschi. «Allerdings braucht es eine klare Kontextualisierung, möglichst viele indigene Stimmen und Wissenschaftler:innen, die einen dekolonialen Ansatz gegenüber betroffenen Gemeinschaften haben.» Wie wichtig die Einbindung indigener Menschen ist, betont auch Bartoletti. In der Ausstellung «Naming Natures» ist einer von ihnen der peruanische indigene Künstler Enrique Casanto, der selbst aus der Asháninka-Gemeinschaft stammt.

Vergrösserte Ansicht: Bild von Enrique Casanto
Enrique Casanto legt die spirituelle Bedeutung der Jagd und der Tiere, die von Tschudi getötet und als Exponate mitgebracht hat, offen. (Bild: Enrique Casanto)

Um alle an der Ausstellung beteiligten Stimmen, Wissenschaften und Perspektiven zusammenzubringen, waren Bartoletti und Bertschi auf eine multidisziplinäre Community angewiesen. Gerade bildet sich eine solche heraus. In der Schweiz widmen sich derzeit gleich mehrere Ausstellungen dem Thema, darunter auch «Koloniale Spuren – Sammlungen im Kontext» im Hauptgebäude der ETH Zürich. Die gestiegene Beachtung ist wichtig, denn, wie Bertschi abschliessend sagt: «Kolonialismus ist nichts aus der Vergangenheit. Viele Schweizer Unternehmen sind nach wie vor in ähnlichen Netzwerken tätig, beispielsweise im Rohstoffhandel. Die globale Expansion und der ökologische Fussabdruck der Schweiz sollten nicht unterschätzt werden. Wir müssen uns der Strukturen bewusst sein, in denen wir heute leben und forschen und wie sie entstanden sind.»

Zu den Personen

Tomás Bartoletti ist Dozent am Lehrstuhl für Geschichte der modernen Welt an der ETH Zürich und leitender Forscher des Ambizione-Projekts «Insect Pests and Economic Entomology in Plantations, c. 1870-1930s: A Multispecies History of Global Capitalism», finanziert durch den Schweizerischen Nationalfonds. Er erwarb seinen Doktortitel an der Universität Buenos Aires und studierte Lateinamerikastudien sowie Wissenschafts- und Technikgeschichte an der Universität Quilmes (Argentinien). Tomás besetzte Forschungsstellen als Max-Weber-Stipendiat am Europäischen Hochschulinstitut (2021–2023) und als Postdoktorand an der ETH Zürich (2019–2021). Zu seinen Forschungsinteressen gehören Geschichte der Wissenschaft und des Imperialismus sowie die Kapitalismus- und Umweltgeschichte. Seit 2023 ist er Mitherausgeber von «Environmental Humanities» und des «Commodity Frontiers Journal».

Denise Bertschi ist Künstlerin, Postdoktorandin und Early-Career-Fellow am Collegium Helveticum. Ihre Forschung bewegt sich an der Schnittstelle der visuellen Kultur, Geschichte und Architektur. Sie untersucht Archive, Landschaften und die gebaute Umwelt auf koloniale Spuren. Ihre Forschung entfaltet sich in Installationen, Publikationen oder Filmen und wirft Fragen zu kulturellen Mythen wie der Neutralität oder Kolonialität der Schweiz auf. Bertschi hat an der EPFL in Architektur promoviert und wurde 2020 mit dem Manor Kunstpreis und 2019 und 2022 mit dem Preis «Die schönsten Schweizer Bücher» ausgezeichnet. In ihrer Doktorarbeit «externe Seite Echoing Swiss Coloniality. Land, Archive and Visuality between Brazil and Switzerland» untersuchte Bertschi die Rolle der Schweizer Eidgenossenschaft bei der Errichtung von Plantagen in Brasilien, die auf Sklaverei basierten.

Ausstellungseröffnung

Die Vernissage für die Ausstellung «Naming Natures: An Exhibition on Natural History and Colonial Legacy» findet am 14. Dezember 2024 von 17.00 – 20.00 Uhr im Muséum d’histoire’ naturelle de Neuchâtel statt. Noch bis 17. August 2025 ist sie zu den regulären Öffnungszeiten für die Besucher:innen zugänglich. Mehr erfahren Sie auf der Projektwebsite externe Seite Naming Natures

Immer aktuell informiert

Möchten Sie stets die wichtigsten internen Informationen und News der ETH Zürich erhalten? Dann abonnieren Sie den Newsletter «Intern aktuell» und besuchen Sie regelmässig Staffnet, das Info-​​Portal für ETH-​​Mitarbeitende.

Kommentare

Kommentar schreiben

Kommentar schreiben

Wir freuen uns, wenn Sie an dieser Stelle Artikel aus den ETH-Newskanälen kommentieren, Fragen stellen oder auch auf Kommentare anderer Leserinnen und Leser reagieren. Bitte beachten Sie dabei unsere Kommentarregeln.

Noch keine Kommentare