1838 segelte der Schweizer Naturforscher Johann Jakob von Tschudi (1818-1889) im Auftrag des Muséum d’histoire naturelle Neuchâtel (MHNN) nach Peru. Während der beinahe fünfjährigen Reise jagte, erlegte und präparierte er über 600 Tiere, die noch heute im MHNN aufbewahrt werden. Eine damals übliche Sammel- und Wissenschaftspraxis, die viele europäische Museen angewendet haben und dadurch noch heute über koloniale Sammlungen verfügen.
Eine Ausstellung zu Johann Jakob von Tschudi
Wie sich Wissenschaftler:innen, oft ohne Rücksicht auf das indigene Erbe, in dieser Weise Exponate angeeignet haben, zeigt die Ausstellung «Naming Natures – Natural History and Colonial Legacy». Kuratiert wird sie von Tomás Bartoletti und Denise Bertschi. «Bei aller Kritik, die wir aus heutiger Sicht anbringen, war von Tschudi aber ein Kind seiner Zeit. Europäer:innen haben sich allen anderen Völkern schlichtweg überlegen gefühlt», sagt Bartoletti, der sich seit 2017 mit von Tschudi auseinandersetzt. Das Interessante an von Tschudi ist, dass er nicht nur Zoologe und Jäger, Reiseschriftsteller und Linguist war, sondern ebenso Diplomat und mit seinen engen Kontakten zur Wirtschaft eine tragende Rolle in der Beziehung der Schweiz zu Lateinamerika spielte. Das macht von Tschudi zu einer der prägendsten Persönlichkeiten der Geschichte zwischen der Schweiz und Lateinamerika.
Ein Teil seines Nachlasses ist ab 15. Dezember 2024 im MHNN zu sehen. Zu den Ausstellungsstücken zählen präparierte Tiere und archäologische Fundstücke, aber auch Illustrationen und Briefe. Materielle Beweise und Zeugnisse, welche Gewaltprozesse in damaligen wissenschaftlichen Expeditionen steckten. «Was einst unbestritten akzeptiert wurde, hat das Fundament der europäischen wissenschaftlichen Autorität tiefgreifend geprägt und bildet das Erbe, aus dem die Wissenschaft letztlich hervorgeht», sagt Bartoletti. Mit seiner Forschung versucht er, Gegenerzählungen zu den «grossen Männern der Wissenschaft» zu liefern, indem er indigene Perspektiven einbezieht, um so den Eurozentrismus zu überwinden.
Mit Kunst den Kolonialismus neu definieren
Bereits 2019 startete Bartoletti das Projekt «Swiss entanglements in nineteenth century Latin America: Johann Jakob von Tschudi’s voyages, translocated practices of knowledge and the construction of Andean Indigeneity». «Die Herausforderung war, die daraus resultierenden Forschungsergebnisse in eine Ausstellung zu bringen», sagt er. Dafür hat er eng mit Denise Bertschi zusammengearbeitet, die für ihre künstlerische Forschungspraxis bekannt ist und sich im Rahmen ihres Doktorats bereits mit Schweizer Kolonialität befasste. «Insgesamt haben wir vier Jahre an der Ausstellung gearbeitet», sagt Bertschi.
Herausgekommen ist eine transdisziplinäre Arbeit, die sowohl Geschichte, Konservierung, Bildende Kunst und Biologie mit einbezieht und vom Schweizerischen Nationalfonds (SNF) im Rahmen des Förderinstruments «Agora» mit der Höchstsumme unterstützt wurde. Die Ausstellung zeigt Kunstwerke von insgesamt 13 Künstler:innen aus Lateinamerika und der Schweiz. Einige kamen selbst nach Neuchâtel und haben sich die originalen Tierpräparate angeschaut, andere haben auf Basis des Buches «Fauna Peruana», einer zoologischen Abhandlung, die von Tschudi nach seiner Rückkehr 1844 geschrieben hat, gearbeitet. Wiederum andere beziehen sich auf sein rassistisches Weltbild, das von Tschudi in seinen Briefen vertrat. Bertschis kuratorisches Ziel war es, koloniale Narrative mit den Mitteln der Kunst kritisch zu reflektieren und zu dekonstruieren.
Kommentare
Noch keine Kommentare