«Mir geht es um Exzellenz in der Forschung»
Seit Anfang Jahr ist Christian Wolfrum Vizepräsident für Forschung an der ETH Zürich. Was sind die die nächsten Herausforderungen für die Forschung und wie packt er sie an?
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Wie gefällt Ihnen der Job als ETH-Vizepräsident für Forschung?
Christian Wolfrum: Für mich ist dieser Job der beste, den ich mir vorstellen kann. Die Forschung an der ETH läuft ausgezeichnet und international auf einem sehr hohen Niveau. Umso mehr will ich mich für unsere Forschenden einsetzen, und dafür, dass die Grundlagenforschung ihren Stellenwert behält.
Welche Strategie verfolgen Sie in der Forschungspolitik?
Der unverrückbare Grundsatz lautet für mich: konsequent Exzellenz in der Forschung zu fördern.
Was bedeutet Forschungsexzellenz für Sie?
Bei Forschungsexzellenz geht es um Spitzenforschung, die bestehendes Wissen grundlegend erweitert. Ersichtlich wird sie in allen Aspekten der wissenschaftlichen Arbeit, an den Fragestellungen, den Methoden, den Resultaten, der Art der Zusammenarbeit und der Wissenschaftskommunikation.
Forschungsexzellenz hat dabei viele Dimensionen: Neben der individuellen Persönlichkeit der Forschenden, ihren Ideen und ihren Forschungsaktivitäten spielen die Rahmenbedingungen eine grosse Rolle. Ebenso sind Integrität und Ethik in der Forschung Schlüsselkomponenten und eine Voraussetzung für Exzellenz in Forschung und Innovation. Nicht zuletzt erfordert Forschungsexzellenz Zeit und Geduld und somit eine langfristig stabile Finanzierung.
Wieso ist Forschungsexzellenz unverzichtbar?
Exzellenz in der Forschung ist die Raison d’être der ETH. Sie schafft ein Umfeld, das Studierende, Forschende und Unternehmen anzieht. Wenn unser Niveau in der Forschung sinkt, verlieren wir auch in Lehre und Wissenstransfer an Qualität.
Wie sehen Sie das Verhältnis von Grundlagenforschung und angewandter Forschung?
Wir haben an der ETH Zürich eine sehr starke Grundlagenforschung und eine sehr starke angewandte Forschung. Ihre Verknüpfung ist unsere grosse Stärke – darum ist es für uns ausserordentlich wichtig, dass beide Richtungen nebeneinander bestehen.
Dennoch mahnen Sie, dass die Grundlagenforschung ihren Stellenwert nicht verlieren dürfe.
Grundlagenforschung ist essenziell. Grosse Innovationen bauen auf der Grundlagenforschung auf. Ich sage nicht, dass sie über der angewandten Forschung steht. Ich stelle jedoch fest, dass die Grundlagenforschung in politischen Debatten an Bedeutung verliert und ihre Relevanz nicht immer verstanden wird. Selbst in der Forschungsförderung gerät sie unter Druck. Eine exzellente Forschungsförderung unterstützt jedoch beide Forschungsarten gleichberechtigt – das war bisher eine Stärke der Schweizer Forschungsförderung und muss es bleiben.
Inwiefern nimmt der Druck auf die Grundlagenforschung zu?
Politik und Förderinstitutionen erwarten immer öfter, dass Grundlagenforschung einen unmittelbaren Nutzen oder einen Bezug zu einer möglichen Anwendung hat. So funktioniert sie aber nicht. Grundlagenforschung hat einen volkswirtschaftlichen Mehrwert, aber sie liefert nicht sofort technologie- und marktreife Produkte. Niemand kann vorhersagen, wann aus ihr ein verwertbares Ergebnis hervorgeht, aber die Erfahrung lehrt uns, dass das sehr oft passiert. Deswegen darf die Grundlagenforschung in der Förderung nicht zu kurz kommen, und deshalb soll man Forschung nicht nach ökonomischen Kriterien fördern, sondern nach Forschungsexzellenz.
«Wer eine ERC-Evaluation besteht, zählt nachweislich zur Spitzenforschung. Dieses Gütesiegel kann die Schweiz weder ersetzen noch ausgleichen.»Christian Wolfrum
Wie beurteilen Sie die diskutierte Entwicklung der Forschungsförderung des Schweizerischen Nationalfonds?
Solange der Bund die Finanzierung der Forschung nicht abbaut und der Nationalfonds Grundlagenforschung und angewandte Forschung gleichwertig fördert, ist das Schweizer Fördersystem ausgezeichnet. Sollten künftig Translation und Anwendung jedoch stärker gefördert werden und wenn dies zulasten der Grundlagenforschung ginge, würde die ETH das nicht begrüssen. Auch lehne ich die ursprünglich vorgesehene Verkleinerung des Forschungsrates, der beim SNF die eingereichten Forschungsprojekte beurteilt, auf ‹zwischen 30 und 80 Mitglieder› statt wie bisher 100 strikt ab. Zum Glück ist der SNF noch einmal über die Bücher gegangen. Neu soll der Forschungsrat ‹maximal 80 Mitglieder haben›. Da werden wir im weiteren Verlauf ein Auge darauf haben, was das bedeutet.
Weshalb beurteilen Sie einen kleineren Forschungsrat kritisch?
Mir geht es um Exzellenz in der Forschungsförderung. Der SNF-Forschungsrat entscheidet über Gesuche aus der ganzen Schweiz. Dafür muss er wie bisher breit abgestützt sein und alle Forschungsbereiche abdecken. Nur fachlich breit aufgestellte Fördergremien schaffen es wirklich, exzellente Forschung zu erkennen und zu fördern. Das sehen wir im Kleinen bei der ETH-Forschungskommission und besonders deutlich im Grossen beim Europäischen Forschungsrat ERC. Der ERC ist weltweit ein Musterbeispiel, wie Exzellenz in der Forschungsförderung funktioniert.
Was heisst das für die Starting und Advanced Grants, die Bund und SNF ausschreiben, weil die Forschenden in der Schweiz derzeit von den ERC Grants ausgeschlossen sind?
Es ist essenziell, dass Bund und SNF diese Grants weiterhin ausschreiben. Dadurch erleiden die Forschenden wenigstens finanziell keinen Nachteil. Die Forschungsförderung der EU und speziell der ERC sind jedoch absolute Erfolgsgeschichten, weil deren Panels exzellente Forschung vorzüglich erkennen. Wer eine ERC-Evaluation besteht, zählt nachweislich zur Spitzenforschung. Dieses Gütesiegel kann die Schweiz weder ersetzen noch ausgleichen. Darum bleibt die Vollassoziierung an Horizon Europe und am ERC ein Schlüsselfaktor für die Spitzenforschung der ETH und der Schweiz.
Sollte der SNF künftig tatsächlich mehr angewandte Forschung fördern, müsste dann die ETH-Forschungskommission in die Bresche springen und mehr Grundlagenforschung fördern?
Nein. Wir können dafür kein Geld umwidmen. Die Forschung der Professuren ist über die Grunddotation finanziert. Die Forschungskommission fördert ergänzend exzellente, visionäre Projekte mit offenem Ausgang und innovativen Ideen. Aber sie gleicht nicht die Förderlücken anderer aus.
Wie geht es mit den ETH-Kompetenzzentren weiter?
Die Kompetenzzentren werden in Zukunft noch wichtiger. Viele strategische Forschungsthemen betreffen viele Departemente. Die Kompetenzzentren sind der richtige Ort für interdepartementale Forschung. Aktuell haben wir jedoch zu viele Kompetenzzentren, ausserdepartementale Zentren und andere befristete Initiativen wie ETH+ / Open ETH, die Joint Initiatives des ETH-Bereichs und die Nationalen Forschungsschwerpunkte NCCR. Wir wollen die interdisziplinären Zentren insgesamt konsolidieren. Wie genau, müssen wir zuerst diskutieren und ebenso, welche Aufgaben sie in Lehre, Forschung, Wissenstransfer und Kommunikation wahrnehmen sollen.
Welche Rolle spielen für Sie die ETH-Technologieplattformen?
Die Technologieplattformen sind sehr wichtig, um kostspielige Forschungsinfrastruktur, die für viele Forschungsgruppen relevant ist, bereitzustellen. Wir müssen jedoch proaktiver als bisher überprüfen, welche Forschungstechnologien wir wirklich benötigen. Dazu überarbeiten wir unsere Plattformstrategie und erstellen ein neues Hub-Konzept.
Welches Ziel hätte ein Technologie-Hub?
Das Ziel ist, den Spitzenforschenden brandneue Forschungstechnologien möglichst rasch zur Verfügung zu stellen. Wenn sie eine bahnbrechende Technologie nur schon ein Jahr früher anwenden können, haben sie einen Riesenvorteil im globalen Wettbewerb. Der Hub wäre eine Art «Anfangsplattform», in dem wir eine Technologie testen, ob sie sich tatsächlich breit durchsetzt, bevor wir gross in sie investieren.
«Die Forschungsethik hat an der ETH drei grosse Ziele: Schutz der Menschen, Schutz der Tiere und Schutz der Gesellschaft.»Christian Wolfrum
Sie haben die Ethik als Voraussetzung für Exzellenz erwähnt. Inwiefern ist sie das?
Wissenschaftliche Exzellenz im weiteren Sinne umfasst nicht nur Exzellenz in der wissenschaftlichen Forschung, sondern auch Exzellenz in der Verbindung von Wissenschaft und Gesellschaft, in der Lehre und Betreuung von Wissenschaftler:innen, im Wissenschaftsmanagement und in der wissenschaftlichen Beratung von politischen Entscheidungsträger:innen, um nur einige Beispiele zu nennen.
Und was sind in der Forschungsethik die aktuellen Herausforderungen?
Die Forschungsethik hat an der ETH drei grosse Ziele: Schutz der Menschen, Schutz der Tiere und Schutz der Gesellschaft. Bezüglich der Forschung mit Tieren und mit Menschen verfügen wir an der ETH über die erforderlichen Strukturen und Prozesse. Mit Blick auf die gesellschaftliche Debatte müssen wir noch genauer darlegen, wie wir mit Tierexperimenten umgehen, und wozu sie – namentlich in der Grundlagenforschung und in der translationalen Forschung – noch immer notwendig sind. Der Schutz der Gesellschaft hingegen ist an der ETH und in der Schweiz noch nicht sehr weit entwickelt. Da geht es zum Beispiel um Forschung mit gefährlichen Viren wie Sars oder COVID. Oder um die Sicherheit bei der künstlichen Intelligenz. Welchen Schutz gibt es, wenn solche Forschung schiefläuft? Eine von mir eingesetzte Arbeitsgruppe erarbeitet deshalb Vorschläge für den Umgang mit sicherheitsrelevanter Forschung basierend auf den Empfehlungen der Deutschen Forschungsgemeinschaft und der Leopoldina.
Was sind die nächsten Schritte bei der Integrität in der Forschung?
Wir haben die «Verfahrensverordnung bei Verdacht auf Fehlverhalten in der Forschung» überarbeitet und an den nationalen Kodex der Akademien der Wissenschaft angepasst. Die Verfahrensordnung gewährleistet jetzt, dass Fälle wissenschaftlichen Fehlverhaltens in einem komplett neutralen Setting untersucht werden. Ausserdem haben wir die Ausbildung in guter wissenschaftliche Praxis (GWP) auf Stufe Doktorat eingeführt, damit wissenschaftliches Fehlverhalten möglichst gar nicht entsteht. Die GWP-Kommission prüft zudem Optionen, wie die Beratung im Bereich wissenschaftlicher Integrität optimiert werden kann.
Welche Bedeutung hat «open science» für Sie?
Open Science ist eine wichtige Entwicklung. Forschende sollen die Daten und Ergebnisse anderer Gruppen nachvollziehen und auch für eigene Fragestellungen verwenden können. Im Moment sind jedoch viele Daten unzureichend annotiert und nicht integrierbar. Das erschwert die praktische Öffnung. Darum geht die Datenaufbereitung gemäss FAIR-Prinzip vor. Forschungsdaten sollen auffindbar (findable), zugänglich (accessible), integrierbar (interoperable) und wiederverwendbar (re-usable) sein. Ein Vorbild sind die Klimaforschenden. Sie führten Standards zur Datenstrukturierung ein und können nun dieselben Daten für verschiedene Modelle verwenden.
Auf die Forschung bezogen: Mit welchem Gefühl blicken Sie in die Zukunft?
Uns stehen einige interne wie externe Herausforderungen bevor, die wir als ETH nicht einfach mit Routine lösen werden. Wir müssen mit knapperen Mitteln genauso exzellent forschen und zugleich erwartet die Gesellschaft von uns Antworten zu Themen wie Klima, Gesundheit oder Sicherheit. Als Forscher habe ich es jedoch so oft erlebt, dass sich Hürden, die zunächst unüberwindbar erscheinen, dennoch bezwingen lassen, sodass ich auch als Vizepräsident meine Zuversicht nicht verliere.
Weitere Informationen
- Vizepräsident für Forschung
- Forschungsförderung an der ETH
- Bewertung von Forschung an der ETH
- externe Seite Mehr strategische Kompetenzen für den Forschungsrat – Evaluation bleibt Teil des Mandats. (Medienmitteilung, SNF, 05.10.2023)
- externe Seite Europäischer Forschungsrat ERC
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