«Scheut euch nicht, um Unterstützung zu bitten»
Von unzuverlässiger Technik bis zu aktiver Unterstützung: Im Interview erzählt Timo Stühlinger, ETH-Doktorand mit Schwerhörigkeit, wie er seinen Alltag an der ETH Zürich erlebt – und was es braucht, damit Barrieren überwunden werden.
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Zur Person
Timo Stühlinger ist 25 Jahre alt und hat an der ETH Zürich Interdisziplinäre Naturwissenschaften studiert. Im Herbst 2024 hat er sein Doktorat begonnen. Timo ist seit seiner Kindheit schwerhörig und hat während seiner Studienzeit seine Erfahrungen im Programm «Hindernisfreiheit an der ETH Zürich» eingebracht. So nahm er beispielsweise an Podiumsdiskussionen teil und war in verschiedene Projekte involviert, u.a. zum Thema «Barrierefreie Alarmierung und Evakuation».
Timo, du bist seit deiner Kindheit schwerhörig. Welche Hindernisse begegnen dir in deinem Alltag an der ETH?
Das hängt davon ab, ob ich von meinem Studium oder meinem jetzigen Alltag als Doktorand spreche. Aktuell bin ich meistens in kleineren oder sogar denselben Räumen: im Labor, im Seminarraum oder in Vorlesungssälen mit Ringleitungen. Diese übertragen den Ton direkt auf mein Hörgerät. So fallen störende Hintergrundgeräusche weg. Im Moment habe ich darum kaum Hindernisse in meinem Alltag.
Wie war die Situation während deines Studiums?
Ziemlich anders. Da war ich ständig in neuen Räumen mit unbekannter Infrastruktur und neuen Professorinnen und Professoren. Besonders in alten Gebäuden waren die Infrarotsysteme oft unzuverlässig. Das Signal wurde manchmal durch Personen vor mir gestört oder die Technik war schlicht defekt. Einige Dozierende unterschätzten auch, wie wichtig es ist, die Akustikanlage zu nutzen – selbst in kleinen Räumen. Ich habe mich dann oft weiter nach vorne gesetzt sowie mein eigenes Mikrofon mitgebracht und es den Dozierenden gegeben.
Wie waren deine Erfahrungen damit?
Insgesamt positiv. Die meisten Dozierenden und Studierenden waren offen und hilfsbereit. Einmal hat sich ein Dozent geweigert, mein Mikrofon zu benutzen. Das war ärgerlich, aber die Ausnahme.
Gab es Hindernisse zu Beginn deines Studiums, die später reduziert oder gar behoben wurden?
Ja, einiges hat sich in dieser Zeit verbessert. Infrarotanlagen werden jetzt regelmässig getestet. Das verhindert, dass defekte Anlagen lange unbemerkt bleiben. Auch für die Ringleitungen gibt es inzwischen Pläne, die zeigen, wo sie gut funktionieren. Ausserdem stehen viele Dozierende dem Thema Hindernisfreiheit sehr offen gegenüber.
Wie erlebst du den Umgang mit Behinderungen in der Schweizer Gesellschaft?
Im direkten Kontakt spüre ich oft eine positive Entwicklung. Kolleginnen und Kollegen verlieren Berührungsängste und nehmen mir von sich aus das Mikrofon ab, wenn sie sprechen möchten.
Im Alltag begegnet mir aber auch Unsicherheit. Manche Personen wechseln plötzlich auf Hochdeutsch oder vereinfachen ihre Sätze, obwohl ich weiterhin Schweizerdeutsch spreche. Das wirkt manchmal etwas komisch. Es zeigt, dass viele nicht genau wissen, wie sie mit Schwerhörigkeit umgehen sollen. Trotzdem: Die Offenheit der Menschen überwiegt. Das finde ich sehr schön.
Was empfiehlst du neuen Studierenden an der ETH?
Ich finde es schwierig, allgemein gültige Hinweise zu geben, da es viele verschiedene Herangehensweisen gibt. Was aber sicher nicht schaden kann: Fragen, fragen, fragen! Ich habe gelernt, dass die Leute an der ETH viel hilfsbereiter und offener sind, als man denkt. Und es gibt so viele Angebote für die verschiedensten Probleme. Mein Tipp also: Keine Scheu haben, um Unterstützung zu bitten. Meistens findet sich eine Lösung.
Hindernisfreiheit an der ETH Zürich
Die ETH Zürich setzt sich für Hindernisfreiheit ein: Menschen mit Behinderungen oder Menschen mit besonderen Bedürfnissen – seien es Studierende, Lehrende, Forschende, Mitarbeitende oder Besucherinnen und Besucher – sollen im Verlauf der nächsten Jahre weitgehend uneingeschränkten Zugang zu den Gebäuden und Dienstleistungen der ETH erhalten.
In 14 Teilprojekten werden die vorgeschlagenen Massnahmen in den drei Kategorien «Bauliches, Gebäudenutzung und Architektur», «Organisation und Kultur» und «Technologie, Kommunikation und Lehre» umgesetzt.
Weitere Informationen zum Programm und den 14 Teilprojekten finden Sie auf der Programmwebseite und an der neuen Ausstellung über «Hindernisfreiheit» im Gebäude OCT.
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