«Die ETH ist keine Fernhochschule»

Der Notbetrieb hat viel verändert. Homeoffice, Online-Unterricht, virtuelle Veranstaltungen: Was wir vor ein paar Monaten noch erst in Ansätzen umsetzten, wurde zum Alltag. Gerd Kortemeyer, Leiter der Abteilung Lehrentwicklung und –Technologie, spricht über seine Erfahrungen im Notbetrieb, darüber, wie die optimale Mischung aus Online- und Präsenzlehre aussieht und was vom Lockdown bleibt.  

Gerd Kortemeyer.
Gerd Kortemeyer. (Bild: Christine Kortemeyer)

Welche Erfahrungen haben Sie während des Notbetriebs gemacht?
Die Umstellung auf digitale Lehre in kurzer Zeit war eine grosse Herausforderung. Der Druck wurde aber durch mehrere Faktoren bedeutend abgeschwächt. Einerseits mussten wir uns dank der hervorragenden technischen Infrastruktur nie Sorgen um einen Systemausfall machen. Vor allem aber spürten wir eine grosse institutionsübergreifende Solidarität, die uns sehr viel Stress nahm. Dozierende, Studierende, Supportdienste und die Schulleitung haben an einem Strang gezogen. Und wenn mal etwas schief lief, war die Toleranz auf allen Seiten gross.

Wie bewerten Sie die Umstellung auf die digitale Lehre an der ETH?

Grundsätzlich bin ich positiv überrascht. Unsere Erhebungen zeigen, dass die Umstellung sehr gut geklappt hat: 95 Prozent der Kurse konnten erfolgreich durchgeführt, die restlichen Veranstaltungen, insbesondere Labors, mehrheitlich nachgeholt werden. Studierende und Dozierende haben die digitalen Veranstaltungen in Umfragen sehr gut bewertet, und die Notenverteilung bei den Prüfungen entsprach dem normalen Bild.
Grösstenteils wurde die traditionelle Form der Hörsaallehre weitergeführt, allerdings in digitaler Form. Das ist eine pragmatische Lösung und das, was kurzfristig am besten funktioniert hat, wenn auch oft mit enormem Aufwand. Gerade dass diese Umstellung so erfolgreich war, sollte jedoch auch ein Denkanstoss sein.

Wie meinen Sie das?

Die Präsenzlehre ist plötzlich weggefallen und trotzdem war der Lernerfolg, gemessen an Prüfungen, am Ende vergleichbar. So war es auch an anderen Hochschulen. Daraus lässt sich ableiten, dass in der Präsenzlehre noch viel ungenutztes Potenzial steckt. Die einseitige Übertragung von Wissen, wie es in einer klassischen Frontalvorlesung geschieht, kann auch digital geschehen. Die Präsenzzeit könnte somit verstärkt für Lehrtechniken genutzt werden, die auf Interaktion basieren, so wie dies an der ETH ja auch vor Corona mehrfach geschah.  Vorlesungen geben und hören kann Spass machen, das wollen wir nicht verlieren, und ein gut ausgearbeiteter Vortrag wird immer inspirierend bleiben – aber vielleicht muss nicht eine ganze Stunde damit gefüllt werden. Es kommt auf die Mischung an.

Können Sie die ideale Mischung von Online- und Präsenzlehre beschreiben?

Die optimale Mischung ist synergetisch. Online- und Präsenzlehre sind aufeinander abgestimmt: Durch Online-Auslagerung der reinen Wissensübertragung verschafft man sich mehr Zeit im Hörsaal, die dann auch aktivierend genutzt werden kann, etwa für Gruppenarbeiten oder eingestreute «Clicker»-Fragen. Die Studierenden bereiten sich online auf die Präsenzzeit vor, welche dadurch noch effektiver wird.

Im Herbstsemester ist die Präsenzlehre stark eingeschränkt. Wird da dieses Ideal bereits verfolgt?

Wie nahe wir dem Idealbild dieser hybriden Form der Lehre schon im Herbstsemester kommen, hängt von verschiedenen Faktoren ab. Im Zentrum steht die Herausforderung, einen Weg zu finden, die eingeschränkte Präsenzlehre so gewinnbringend wie möglich zu nutzen. Der Aufbau ist sehr aufwändig und wird Dozierende wie Studierende fordern: Ihre Geduld ist also mitentscheidend. Vor allem aber ist eine synergetische Lehre auf Stabilität angewiesen, die Präsenzzeit muss nach Plan stattfinden können. Die Gefahr ist, dass man, statt Synergie zu erreichen, am Ende die doppelte Energie aufwenden muss. Angesichts des ungewissen Pandemieverlaufs müssen wir hier ein möglichst robustes Konstrukt finden.

Was bleibt vom Lockdown?

Der Notbetrieb war ein Aufwach-Moment: Er bringt uns dazu, unser Wertesystem neu zu denken. Dieser Prozess hat erst gerade begonnen. Es hat sich eine grosse Offenheit manifestiert, auch der Mut, unreflektierte Traditionen zu hinterfragen, und nicht zuletzt eine neue Wertschätzung der Präsenzlehre. Die ETH ist keine Fernhochschule – wir sind stolz auf die vielen hochkarätigen Forschenden, die bei uns lehren und mit den Studierenden interagieren. Langfristig müssen wir mehr in Onlineressourcen investieren, die die Präsenzveranstaltungen optimal begleiten. Schliesslich hoffe ich, dass auch die spürbare Solidarität und der Optimismus bleiben werden. Denn das Herbstsemester wird eine grosse Herausforderung. Aber wenn wir sie meistern, kommen wir gestärkt aus der Krise.

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