Für eine ETH, in der sich niemand ausgeschlossen fühlt
Der Studierendenverband VSETH und die Mittelbauvereinigung AVETH haben mit #speakupETH eine Kampagne lanciert, in der Situationen von Diskriminierung oder Benachteiligung an der ETH Zürich dargestellt werden. Ziel dieser Kampagne ist es, eine inklusivere Hochschule zu schaffen. Das Interview mit den Kampagnen-Verantwortlichen des VSETH.
Heute Mittwoch ist auf Instagram über externe Seite @speakupeth ein Post erschienen, der eine öffentliche Äusserung beklagt, die sich gegen Frauenförderung richtet. Das ist der Auftakt zur #speakupETH-Kampagne des Verbands der Studierenden VSETH und der Mittelbauvereinigung AVETH. Die beiden Verbände haben vor zwei Wochen ihre Mitglieder dazu aufgerufen, Erfahrungsberichte einzureichen, die von Diskriminierung oder anderer Benachteiligung an der ETH handeln. Stella Harper und Kolja Frahm vom Ressort Hochschulpolitik des VSETH sagen im Interview, was hinter dieser Kampagne steckt, und welche Ziele sie damit verfolgen.
ETH Zürich: Was ist speakupETH?
Stella Harper: speakupETH ist eine Plattform, auf der Studierende Erlebnisse, die sie in der ETH gemacht haben, mit uns und der Community teilen können. Es geht um Erfahrungen mit Diskriminierung, Rassismus, Sexismus, homophoben Bemerkungen, also um Situationen, in denen es an Respekt gefehlt hat.
Kolja Frahm: Wir wollen mit speakupETH keine Hetzjagd veranstalten, und es geht uns auch nicht darum, bestimmte Stellen an der ETH oder dem VSETH zu diskreditieren. Vielmehr wollen wir ETH-Angehörige dafür sensibilisieren, was Menschen verletzen kann, aber auch dass es für gewisse Handlungen eine Einwilligung des Gegenübers braucht. Wir wollen generell ein inklusiveres Umfeld schaffen, damit sich alle an der ETH wohlfühlen und niemand diskriminiert wird.
Stella: Wichtig ist uns auch, dass wir auf die Geschichten reagieren können und den Studierenden, die negative Erfahrungen gemacht haben, Unterstützung bieten.
Lässt sich allgemein definieren, was als diskriminierend gelten soll, oder nach welchen Kriterien publiziert ihr die Eingaben?
Kolja: Wir publizieren nicht alles, sondern entscheiden, ob das Testimonial in den Kontext der ETH, beziehungsweise der wiegETHs-Umfrage von 2019 passt. Diese hat gezeigt, dass rund jede und jeder zehnte Studierende der ETH schon Diskriminierung oder eine andere Form von Fehlverhalten erlebt hat.
Stella: Uns ist es wichtig, dass wir jede Geschichte, die wir erhalten, gleich behandeln. Da finden natürlich sehr viele interne Diskussionen statt. Wir haben einen genauen Prozess definiert, wie wir mit den Eingaben umgehen; es schauen immer mehrere Mitglieder über die Testimonials. Solche, die etwas kritisch sind, die bei uns selbst auch Fragen aufwerfen, diskutieren wir in unseren wöchentlichen Meetings. Dabei geht es uns nicht darum, Diskussionen zu verhindern, indem wir gewisse Dinge nicht posten. Aber wir gehen sorgfältig mit allen Eingaben um – und überlegen uns auch, welche Diskussionen wir nicht starten wollen.
Gibt es dafür ein Beispiel?
Kolja: Wenn beispielsweise jemand namentlich angegriffen wird, publizieren wir das nicht in dieser Form. Wir schauen uns aber den Fall genau an und kontaktieren eventuell auch die angegriffene Person, wenn die Verfasserin, der Verfasser des Testimonials zustimmt. Doch würden wir sie nie namentlich nennen.
Stella: Dies betrifft auch Gruppen. Wir streichen alles raus, was bestimmte Personen oder Gruppen erkenntlich macht. Es soll kein Shaming stattfinden.
Das heisst, euch geht es mehr um die Mechanismen und Strukturen?
Stella: Absolut. Ein Entscheidungskriterium für oder gegen eine Publikation ist auch, ob das geschilderte Erlebnis in einem ETH-Kontext stattfand. Uns ist bewusst, dass wir uns da mit Themen beschäftigen, die nicht nur an der ETH auftauchen, sondern für die ganze Gesellschaft von Bedeutung sind. Doch wir können nur an der ETH aktiv werden, weil wir nur hier den Betroffenen auch Unterstützung anbieten können.
Wie viele Eingaben habt ihr schon erhalten?
Kolja: Wir haben das Projekt vor zwei Wochen in den Newslettern und Social Media-Kanälen von VSETH und AVETH sowie der Fachvereine angekündigt und die Infos auch über Whatsapp-Gruppen verbreitet. Seither haben wir bereits 30 Testimonials erhalten, was zeigt, dass das Thema unter den Nägeln brennt.
Stella: Viele geben ihre Kontaktdaten an. In diesen Fällen ist unser erster Schritt immer, Kontakt aufzunehmen, unsere Unterstützung anzubieten und mit ihnen ins Gespräch zu kommen. Wir besprechen mit ihnen auch, wie wir die Testimonials für die Publikation aufbereiten.
Wovon handeln die ersten Meldungen? Spiegeln die Eingaben die Ergebnisse der wiegETHs-Umfrage?
Stella: Thematisch überraschten uns die bisherigen Testimonials nicht. Wir haben die Themen Machtmissbrauch im akademischen Umfeld, sexistische diskriminierende Kommentare und Sexismus im Verhalten zwischen Männern und Frauen an der ETH.
Kolja: Es gab auch andere Themen wie Homophobie. Und Meldungen von ausländischen Studierenden, die sich ausgegrenzt fühlen, weil sich ihre Schweizer Kolleginnen und Kollegen abgrenzen. Es sind alles Themen, in denen die ETH auch in unserer Umfrage nicht besonders gut abschneidet. Erfreulich ist, dass wir auch bereits einzelne positive Rückmeldungen erhalten haben, die betonen, dass an der ETH in den letzten Jahren bereits vieles unternommen wurde.
Stella: Unerwartet war die Länge der Eingaben. Es hat niemand nur mit einem Satz beschrieben, was passiert ist. Viele der Geschichten sind auch sehr emotional geschrieben, die Leute sind sehr offen und ehrlich.
Was macht ihr, wenn ihr von gravierenden Vorfällen erfahrt?
Stella: Bis jetzt ist glücklicherweise noch kein strafrechtlich relevanter Vorfall gemeldet worden. In einigen Fällen vermitteln wir sofort die Kontaktstellen an der ETH. Uns geht es mit speakupETH auch darum, diese Kontaktstellen besser bekannt zu machen.
Und wie geht ihr persönlich mit solchen Meldungen um?
Stella: An der EPFL haben Studierende bereits vor über einem halben Jahr eine ähnliche Kampagne gestartet. Von ihnen haben wir den Rat erhalten, dass wir uns psychologische Unterstützung für uns selbst holen. Das werden wir tun, denn das ist in der Tat sehr wichtig für uns. Wir haben bereits am ersten Tag realisiert, wie die eintreffenden Meldungen auf unsere Stimmung drückten. Wir sind daher sehr dankbar, bald als ganze Gruppe Supervision zu erhalten.
Heute ist der erste Post erschienen, wie geht es weiter?
Kolja: Wir planen, wöchentlich mehrere Testimonials zu veröffentlichen. Und um die Verbindung zur wiegETHs-Umfrage herzustellen, wird es jede Woche zudem einen Post aus dem Abschlussbericht der Umfrage geben. Das kann ein Fakt sein oder eine Massnahme, um aufzuzeigen, dass auch tatsächlich etwas passiert.
Stella: Die eigentliche Kampagne wollen wir zu Semesteranfang im September starten, wenn auch die Respekt-Kampagne wieder aufgenommen wird. Dazu haben wir bereits viele Ideen: Es wird Poster und Events geben, aber auch Interaktionen auf Instagram. Wenn wir Follower haben, können wir mit ihnen auch in einen Austausch treten. So wollen wir neben den Testimonials beispielsweise auch Tipps bringen, wie jeder von uns einen Beitrag leisten kann oder die Kontaktstellen in Videos portraitieren.
Habt ihr auch bereits ein Projektende definiert?
Stella: Die grössere Kampagne soll sicher bis Ende des Herbstsemesters laufen. Und dann wollen wir schauen, ob es Möglichkeiten gibt, speakupETH auch mit anderen Initiativen an der ETH zu verbinden. Schliesslich hängt die Dauer der Kampagne auch davon ab, wie lange wir Testimonials erhalten. Und dann geht es auch um die Analyse der Eingaben. Wenn wir beispielsweise sehen, dass es bei einem grossen Teil der Testimonials um Sexismus geht, müssen wir schauen, wie wir zusammen mit der ETH-Leitung Massnahmen definieren können. Dann würde der nächste Schritt starten und das Projekt hätte eine Art fliessendes Ende.
Welche Verbindung seht ihr zur Kulturdiskussion, die im Rahmen von rETHink stattfindet?
Stella: Jedes Umfeld und jede Gruppierung hat eine Kultur, die immer wieder neu definiert werden muss, weil sich die Zeiten ändern. Hier versuchen wir einen Beitrag zu leisten. Es gibt Dinge, die vor 50 Jahren noch kein Thema waren und es nun sind. Der Umgang muss verändert werden, und damit ändert sich auch die Kultur an der ETH. Oft steckt nicht böser Wille hinter den negativen Erlebnissen, sondern mangelnde Reflexion darüber, wie das Gegenüber eine Situation wahrnimmt.
Kolja: Mit den Testimonials wollen wir aufzeigen, in welche Richtung wir an der ETH gehen sollten: Wir möchten die ETH zu einem inklusiveren Ort machen.
Wenn ihr die fünf Werte anschaut, die bei rETHink diskutiert werden: Wie gewichtet ihr Verantwortung, Offenheit, Teamgeist, Diversität und Exzellenz für speakupETH?
Kolja: Exzellenz würde ich eher auf das Studienumfeld beziehen und weniger als Wert, der die Zusammenarbeit prägt. Offenheit, Diversität und Verantwortung sind aber klar Werte, die in das Projekt hineinspielen, und letztlich geht es uns darum, einen ETH-Teamgeist zu schaffen. Eine ETH, an der sich niemand ausgeschlossen fühlt.
Stella: Was Exzellenz angeht, wissen alle in meinem Umfeld, dass ich allergisch auf dieses Wort reagiere (lacht). Aber das ist eine persönliche Meinung. Ich würde Offenheit voranstellen, denn darum geht es zurzeit in unserem Projekt: Dass wir offen miteinander sprechen.
Weitere Informationen
Das Projekt speakupETH wurde von der AG Chancengleichheit des VSETH angestossen, als Reaktion auf die Ergebnisse der wiegETHs-Umfrage von 2019. Die Arbeitsgruppe zählt mittlerweile 20 Mitglieder, die sich um die Plattform und die Eingaben kümmern. Der AVETH ist ebenfalls an speakupETH beteiligt.
Informationen zur Kampagne finden sich auf externe Seite Instagram.
Informationen zum Projekt «wiegETHs» sind auf der entsprechenden Website des VSETH verfügbar. Auf den «Respekt»-Seiten der ETH Zürich findet sich Informationen zum Verhaltenskodex, zu Anlaufstellen usw.