Sollen die Bewerbungsverfahren anonymisiert werden?

Zu diesem Thema haben wir nur Pro-Beiträge erhalten. Deshalb finden Sie untenstehend statt eines Kontra-Beitrags die Einschätzung von Lukas Vonesch, Leiter HR Beratung.

Pro

Furkan Sami Oguz
Furkan Sami Oguz, Mitarbeiter bei der Professur für Wirtschaftsforschung (Illu: Kornel Stadler)

Stellen Sie sich vor, Sie bewerben sich auf eine Stelle und Ihr Name ist nicht Jonas Meier, sondern Qendrim Koçi oder Blerta Halili statt Lea Schmid. Allein durch diese Tatsache sinkt die Wahrscheinlichkeit, dass Sie in die nächste Runde eingeladen werden, um bis zu 40 Prozent – und das trotz Schweizer Staatsbürgerschaft und identischen Bewerbungsunterlagen. Genau das kam bei einer Studie der Universität Neuenburg vor drei Jahren heraus und wurde von einer ETH-Studie letztes Jahr bestätigt. In dieser wurde das Such- und Kontaktverhalten von Recruiter:innen auf dem grössten Schweizer Jobportal ausgewertet. Das Ergebnis: Bewerbende mit Migrationshintergrund werden bis zu fünfmal seltener kontaktiert. Zudem gibt es für Frauen eine Diskrepanz bei männerdominierten Berufen und umgekehrt.

«Der Prozess gleicht einem «Bewerbungstinder», wo Oberflächlichkeiten zu Fehlannahmen führen und uns dazu verleiten, bei einem Jonas eher nach rechts zu swipen als bei einem Qendrim.»  Furkan Sami Oguz

Man geht davon aus, dass es sich meistens um eine unbewusste Diskriminierung handelt. Die Herkunft oder das Geschlecht werden mit bestimmten Attributen verknüpft und für die gesamte Personengruppe verallgemeinert. Gerade bei vielen Bewerbungen wird jede Bewerbung nur wenige Minuten betrachtet. Der Prozess gleicht einem «Bewerbungstinder», wo Oberflächlichkeiten zu Fehlannahmen führen und uns dazu verleiten, bei einem Jonas eher nach rechts zu swipen als bei einem Qendrim. Oder etwa bei Personen, die uns ähneln.

Es fehlen zwar weiterführende Studien für den Schweizer Arbeitsmarkt, aber eines ist klar: Wenn man schon bei der ersten Hürde scheitert, kann man das Gegenüber auch nicht persönlich von den eigenen Kompetenzen überzeugen. Genau das würde aber helfen, um die Vorurteile aufzuweichen und dadurch die unbewusste Diskriminierung Stück für Stück zu reduzieren. Denn beim Gespräch zählt das Gesagte und das Verhalten und das kann man im Gegensatz zum Namen, der Herkunft, dem Geschlecht oder dem Alter beeinflussen. Eine anonymisierte Bewerbung, wie sie in vielen Organisationen in den USA und in Europa bereits Usus ist, setzt genau da an.

Einschätzung von Lukas Vonesch, Leiter HR Beratung

Lukas Vonesch
Lukas Vonesch, Leiter HR Beratung (Bild: Gian Marco Castelberg)

Damit die besten Talente an die ETH kommen, haben Vorurteile und Diskriminierung in der Rekrutierung keinen Platz. Anonymisierte Bewerbungsverfahren versprechen Vorteile und verdienen eine Chance. Sie haben aber auch Grenzen. Und der Schlüssel zum Erfolg liegt nicht bei den Bewerbungsunterlagen, sondern in unseren Köpfen.

Zunächst gilt es aber mit einem Irrtum aufzuräumen: Die Vorselektion bei der Rekrutierung übernimmt an der ETH nicht das HR, sondern die Person, die einstellt. Das HR entscheidet auch nicht über die Einstellung, sondern unterstützt und berät.

Anonyme Bewerbungen können helfen, unbewusste Vorurteile zu limitieren. Aber ein Allheilmittel sind sie nicht. Denn auch wenn das Alter, das Geschlecht und die Herkunft nicht ersichtlich sind, sagen auch die bisherigen Arbeits- und Ausbildungsorte viel über eine Person aus – und können somit auch unbewusste Biases auslösen. Oder es werden so viele Angaben anonymisiert, dass die Unterlagen nicht mehr aussagekräftig sind.

Hinzu kommt: Schon nach der ersten Vorselektion ist ein virtueller Kontakt oder ein persönliches Gespräch notwendig und sinnvoll – und schon ist die Anonymität weg und es geht wieder um unsere Denkmuster.

«Es lohnt sich, offen zu sein für überraschende Talente!»Lukas Vonesch

Deshalb sind vor allem drei Faktoren für eine vorurteilsfreie Rekrutierung wichtig: Zunächst müssen wir bei uns selbst ansetzen und die eigenen «unconscious bias» identifizieren. Vor allem aber gilt es, vielfältige Sichtweisen auf die Bewerbungen zu erhalten. Deshalb mein Appell an alle einstellenden Personen: Beziehen Sie andere Beurteilende mit ein, seien Sie offen für andere Sichtweisen, beteiligen Sie unterschiedliche Personen an den Interviews. Und laden Sie bewusst auch nicht offensichtlich passende Kandidat:innen ein. Ich selbst vergebe bei jeder Einstellung eine «wild card» und lade eine Person ein, die nicht alle Anforderungen erfüllt. Es lohnt sich, offen zu sein für überraschende Talente!

Und auch unser Recruiting-Team ist offen und weder für noch gegen anonyme Bewerbungen. Sie als einstellende Person entscheiden über das Bewerbungsverfahren, und wenn Sie anonymisierte Bewerbungen ausprobieren möchten, beraten wir Sie gerne. Denn bei einem sind wir uns an der ETH sicher alle einig: Von einem möglichst vorurteilsfreien Bewerbungsverfahren profitiert die gesamte Hochschule!

Und was halten Sie von anonymen Bewerbungsverfahren? Diskutieren Sie mit in den Kommentaren.

Dieser Beitrag stammt aus der aktuellen Ausgabe des ETH-​​Magazins «life».

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