Der Campus schläft nie

Wenn die meisten Mitarbeitenden und Studierenden nach Hause gehen, beginnt für andere die Spätschicht. Eine Nacht an der ETH Zürich.

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Auch in der Nacht ist auf dem Campus der ETH viel los. (Alle Bilder: Alessandro Della Bella)

«Welcher 95-Jährige hat heute seinen Rückzug aus dem öffentlichen Leben bekanntgegeben?», fragt Brett Stirling sein Publikum. Der Moderator führt gerade durch ein Pub Quiz in der Alumni Lounge. Es ist 20 Uhr. Viele ETH-Angehörige lassen den Tag hier auf dem Campus Hönggerberg bei einem Rätselabend ausklingen. Während die Teams ihre Köpfe zusammenstecken, um über die Antwort zu diskutieren – war das nicht Prince Philip? – erklärt Restaurant-Managerin Nurcan Inak ihr Konzept für die Alumni Lounge. «Mit unseren Veranstaltungen wollen wir die Menschen dazu ermuntern, mehr Zeit auf dem Campus zu verbringen.» Ab dem Herbstsemester sind täglich Live-Musik, Spiele-Abende, Karaoke oder Vernissagen geplant. Schon heute finden mehrmals im Monat Events statt und auch an den restlichen Abenden ist das Lokal gut gefüllt. «Bei uns wird diskutiert, gearbeitet und abgeschaltet», sagt Inak und stellt den eben zubereiteten Caipirinha auf den Tresen. «Viele kommen vom Sport und bleiben auf ein Feierabendbier.»

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ETH-Angehörige beim Pub Quiz in der Alumni Lounge

Bier gibt es auch nebenan im Loch Ness. Dort findet an diesem Abend im Mai gerade ein Bierfestival statt. 15 Biere aus 10 Ländern gibt es zum Probieren. Der Geruch schlägt einem entgegen, sobald man den kleinen Raum betritt. Es ist voll und laut, das Licht schummrig. Tim Kappeler, Architekturstudent im 6. Semester, hat die Party organisiert. Die Bar gehört zur Studentenvereinigung AIV (Akademischer Ingenieur-Verein) des VSETH und ist jeden Dienstag und Donnerstag geöffnet. «Alle, die hier arbeiten, sind Studierende. Sie arbeiten gratis zwei bis drei Mal im Semester», sagt Kappeler. Denn Profit macht das Lokal mit seinen Preisen keinen: «Hier gibt es mit Abstand das günstigste Bier in Zürich», sagt Chris Vinck. Er kommt gerade aus dem Kraftraum des ASVZ und ist auf dem Heimweg hängengeblieben.

Besagter Kraftraum im Sport Center Hönggerberg ist noch immer gut besucht. Mittlerweile ist es 21 Uhr. Langsam wird es dunkel und es hat angefangen zu regnen. Vorwiegend Männer stemmen Gewichte, sitzen an den Fitnessgeräten und machen Rumpfbeugen auf den Matten. In der Sporthalle findet gerade das Handballtraining statt. «Du musst schneller rennen!», ruft der Trainer. «Let’s go! Grad nochmal!“ Verschwitzt und mit roten Gesichtern hetzen die Spieler von einem Ort zum nächsten. Der Ball fliegt hin und her, bis: «Jawohl! Und den Ball rein in die Kiste!»

Auch in den Räumen nebenan herrscht noch reger Betrieb. Salsa, Ballett, Taekwondo – alle Kurse sind gut besucht. Erst um 22.45 Uhr ist wochentags Schluss. Während die einen feiern, schwitzen die anderen.

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Abendliche Taekwondo-Stunde im Sport Center Hönggerberg

Sicherheit und Ordnung

An der Bushaltestelle fährt gerade ein Bus der Linie 69 vor. Trotz später Stunde bringt er noch ein gutes Dutzend Personen auf den Campus. «Seit ein paar Jahren hat es mehr Veranstaltungen. Dadurch gibt es auch öfter Nachtruhestörungen», sagt Christof Körber vom Sicherheitsdienst der Abteilung Sicherheit, Gesundheit und Umwelt. Schon seit 19 Jahren arbeitet er für die ETH Zürich. Heute hat er Spätdienst. Im Parkhaus des HCO kontrolliert er den Liefereingang für die Chemie. «Das muss weggeräumt werden», sagt Körber und zeigt auf leere Fässer, die aufeinander gestapelt an der Wand stehen. Dahinter befindet sich die Notdusche, die bei Chemie-Unfällen zum Einsatz kommt. «Im Falle einer Kontamination verliert man sonst wertvolle Sekunden.» Während seiner Schicht stellt er sicher, dass alle Türen verschlossen und die Fluchtwege frei sind. Alarme gehen zuerst bei der Alarmzentrale ein und werden dann an ihn weitergeleitet. Viele sind technischer Natur, etwa wenn in einem Raum die Lüftung oder eine andere Anlage aussteigt. Gerade in Laboren kann dies zu heiklen Situationen führen.

«Grüezi, ETH-Sicherheitsdienst. Bitte verlassen Sie den Raum, wir schliessen jetzt ab.» Immer wieder trifft Körber Personen an, die noch zu später Stunde in den Computerräumen arbeiten. «Vor den Prüfungen merkt man den Studierenden die Nervosität an», sagt Körber. Dass es bereits 23 Uhr ist, spürt man im Zeichensaal des Departements Architektur im HIL-Gebäude kaum. Bald sind Projektabgaben, überall werken Studierende an ihren Modellen. Es herrscht kreatives Chaos. Auf den Tischen und am Boden liegen Papierschnitzel und Leimtuben, Kartoffelchips und leere Getränkeflaschen. «Wir gehen um eins auf den letzten Bus», sagt Cilgia Salzgeber, Architektur-Studentin im ersten Jahr. Kurz vor dem Abgabetermin macht sie die eine oder andere Nacht auch durch. Dann duscht sie zuhause nur kurz, um am Vormittag wieder an der Hochschule zu sein.

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Studierende arbeiten nachts noch an ihren Architekturprojekten

Ein paar Gebäude weiter im Keller des HPK wird ebenfalls noch gearbeitet. Im Departement Biologie arbeitet das Kernspinresonanz-Spektrometer auf Hochtouren. Die etwa vier Meter hohe Maschine analysiert das ganze Jahr über ohne Unterbruch winzig kleine Proben, etwa von isolierten Proteinen und medizinischen Wirkstoffen. «Damit können wir sogar die schwächsten Signale von Atomen und Atomkernen untersuchen», erklärt Alvar Gossert vom Institut für Molekularbiologie und Biophysik. Alle paar Nächte sind Doktorierende oder andere Institutsangehörige vor Ort. Dann nehmen sie die schmalen Reagenzgläser, welche die Proben enthalten, aus der Maschine und ersetzen sie mit neuen Proben. Betreten sie den Raum, dürfen sie nichts Metallisches auf sich tragen: Denn das Gerät erzeugt das grösste Magnetfeld an der ETH. Uhren würden sofort stehen bleiben.

Auch in anderen Departementen wie etwa der Materialwissenschaft oder Chemie und angewandte Biowissenschaften steht die Forschung nie still. Zwar sind nur selten Personen vor Ort, doch die Maschinen laufen Tag und Nacht. Der Campus schläft nie.

Polyterrasse im Mondlicht

Es hat aufgehört zu regnen. Um 2 Uhr morgens ist die Nacht sternenklar. In den Studierendenwohnungen brennt nur noch vereinzelt Licht. Auf dem Hönggerberg wie auch im Zentrum patrouilliert der Sicherheitsdienst die ganze Nacht. Auf der Polyterrasse trinken Partygänger auf dem Heimweg noch ein letztes Bier. Am Morgen wird der Putzdienst ihren Abfall wegräumen müssen.

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 SGU-Mitarbeiter Rolf Isaak kontrolliert die unterirdischen Gänge im Zentrum

Die bQm-Bar ist seit ein paar Stunden geschlossen, am Abend hat ein DJ aufgelegt. Im ETH-Hauptgebäude ist es dunkel und ruhig. Dennoch sind ein paar Tische noch besetzt: Einzelne Studierende machen die ganze Nacht durch, um sich für die Prüfungen vorzubereiten.

Gegen 5 Uhr beginnt für das Personal der Mensa Polyterrasse der neue Tag. Stundenlang produziert die Küchencrew des Caterers SV Take-Away-Produkte, bäckt Focaccia, Wähen, Guetsli und bereitet das Mittagessen vor. «Während des Vollsemesters essen alleine in der Mensa jeden Tag 2500 Menschen», sagt Einkaufsleiter Mio Grbic. Ausserdem stellen die Köche in der Produktionsküche unter der Polyterrasse auch Produkte für viele andere SV-Betriebe im ganzen Raum Zürich her.

Draussen dämmert es. Vor dem Lieferanteneingang in der Unterführung hält ein Lastwagen nach dem anderen. An einigen Tagen bringen die Männer ein paar hundert Kilo Lebensmittel, mal sind es ein paar Tausend. Heute ist es eher ruhig. «Am hektischsten ist der November mit dem ETH-Tag und dem Polyball», sagt Grbic, während er die angelieferte Ware kontrolliert. Die Temperatur der tiefgekühlten Waldbeerenmischung beträgt minus 20.6 Grad. Passt.

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Frühmorgens bringen die Lieferanten tonnenweise Ware.

Im Hauptgebäude tritt Rolf Isaak vom Sicherheitsdienst gerade die Frühschicht an. Die Nacht war ruhig. Während im Sport Center des ASVZ seit 6.30 Uhr die ersten schon wieder auf den Velos sitzen, bewacht er die Gebäude. Er prüft, ob in der Nacht jemand die Wände beschmiert hat, die Feuerwehrzufahrt zur Polyterrasse frei ist und kontrolliert mit seinem riesigen Schlüsselbund die Ein- und Ausgänge. Jeden Tag legt er auf seiner Tour viele Kilometer zurück.

Während Isaak sich auf den Weg zu den Gebäuden in der Gloriastrasse macht, sitzen in der eben geöffneten Cafébar im Foyer des Hauptgebäudes schon die ersten Ankömmlinge. Mit Kaffee und Gipfeli stärken sie sich für die Arbeit. Ein Student räumt mit übernächtigtem Blick seine Lernmaterialien zusammen und geht in die erste Vorlesung. Der Tag beginnt von Neuem.

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Um fünf Uhr morgens beginnt in der Produktionsküche der mensa Polyterrasse die Arbeit.

Dieser Artikel ist in der aktuellen Ausgabe von «life» erschienen.

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