Welche Führungskultur wollen wir?
An der ETH Zürich arbeiten 11 400 Menschen, davon 1250 mit einer Führungsfunktion. Die Führungskultur aber prägen wir alle – und damit den Erfolg unserer Hochschule.
«Vorgesetzte zu werden, war nie wirklich mein Ziel», sagt Laura Nyström, die vor neun Jahren für eine Assistenzprofessur am Departement Gesundheitswissenschaften und Technologie von Finnland in die Schweiz zog. Heute leitet sie als ausserordentliche Professorin eine Forschungsgruppe mit rund 20 Mitarbeitenden. 2015 hat sie einen ERC Starting Grant in Höhe von 1,6 Millionen Franken erhalten, Ende August wurde sie mit dem ALEA Award als vorbildlichste Führungskraft der ETH ausgezeichnet. Was macht ihren Erfolg aus?
«Die Kultur an der ETH hat mich sehr geprägt», sagt die 41-Jährige. «Die Menschen, die hier arbeiten, sind sehr ambitioniert und haben sehr hohe Ziele. Dadurch entsteht ein positiver Wettbewerb, der alle weiterbringt.» Zudem sei der Umgang untereinander viel offener, diskussions- und kritikbasierter als an ihrer finnischen Universität.
«Am Anfang habe ich es oft persönlich genommen, wenn mich meine Mitarbeitenden kritisierten. Aber ich habe gelernt, die Kritik als Chance zu sehen. Heute bin ich überzeugt: Als Führungskraft am meisten entwickelt habe ich mich durch das Feedback und die Kritik meiner Doktorierenden und Mitarbeitenden.» Mit allen Gruppenmitgliedern führt Laura Nyström zweimal im Jahr ein ausgiebiges Personalgespräch, bei dem neben deren Entwicklung auch ihr Verhalten als Vorgesetzte viel Raum einnimmt. Die Frequenz der forschungsbezogenen Gespräche bestimmt sie gemeinsam mit jedem Teammitglied.
Ehrliches und konstruktives Feedback
«Führung ist eine Gemeinschaftsaufgabe», sagt auch Ulrich Weidmann, Vizepräsident für Personal und Ressourcen, und erklärt: «Die meisten Führungskräfte in der Wissenschaft haben sich aufgrund ihrer grossen Leidenschaft für ein Fachgebiet für eine akademische Karriere entschieden – und nicht, um Chef oder Chefin zu werden. Ausserdem haben Professorinnen und Professoren sehr viele Aufgaben neben der Personalführung.» Deshalb seien die Rückmeldungen der Mitarbeitenden sehr wichtig für unsere Führungskultur, gleichzeitig aber auch deren Bereitschaft, wohlwollende Kritik von der vorgesetzten Person als Unterstützung zu sehen. Ehrliches und konstruktives Feedback sei aber auch ausserhalb des akademischen Bereichs zentral. «Ein positiver Umgang mit Kritik und Selbstreflexion sind die Voraussetzung, um sich als Führungskraft, Mitarbeitender und Mensch weiterzuentwickeln», so der Vizepräsident.
Gleichzeitig sollte man die vorgesetzte Person nicht als Dienstleister sehen – weder für die eigene Zufriedenheit noch für die Erfüllung der eigenen Leistungsziele. Wie schwierig es sein kann, wenn ein Teammitglied die geforderten Aufgaben nicht erfüllen kann, weiss Laura Nyström aus eigener Erfahrung. «Ich versuche, mit jedem Mitarbeitenden individuelle Strategien zu finden, wie etwa die Definition von Teilzielen. Als ich aber nach neun Monaten merkte, dass eine Doktorandin ihr Doktorat unmöglich in vier Jahren schaffen kann und es zu einer Trennung kommen musste, war das nicht einfach für mich», erinnert sich die Professorin. Der Austausch mit anderen Kolleginnen am Departement habe ihr bei der Vorbereitung auf das Gespräch geholfen.
Konfliktsituationen frühzeitig angehen
Hilfe in schwierigen Situationen bietet auch die Personalabteilung – sowohl für Mitarbeitende als auch für Vorgesetzte. «Bei 11 000 Menschen sind Probleme und Konflikte vorprogrammiert. Entscheidend ist, wie man damit umgeht», sagt HR-Leiter Lukas Vonesch und betont: «Vorgesetzte sollten Konfliktsituationen frühzeitig erkennen, die Ursachen herausfinden und einen Lösungsprozess entwickeln. Das direkte Gespräch ist immer am besten, aber es gibt Situationen, in denen auch die erfahrensten Führungskräfte Unterstützung durch Kolleginnen und Kollegen oder durch Fachpersonen im HR benötigen. Nach Unterstützung zu fragen ist keine Schande, sondern Führungsstärke.»
Konflikte können aber auch auf Fehlverhalten hinweisen. Wenn ein offenes Gespräch mit den Betroffenen nicht möglich ist, kann das HR helfen. Die Beratung durch die Personalabteilung ist vertraulich, und weitere Schritte werden immer abgesprochen. Um eine Verbesserung zu erreichen, sei aber der Einbezug aller Beteiligten meist unumgänglich. «Selten ist Absicht die Ursache für Fehlverhalten, sondern Missverständnisse, unterschiedliche Interessen oder auch Überforderung», sagt Lukas Vonesch. Je früher man eingreife, desto leichter könne eine Situation entschärft werden. «Wir sind alle in der Pflicht, hinzuschauen und zu handeln, wenn sich jemand nicht an den Verhaltenskodex der ETH hält», so der HR-Leiter.
Neben individuellen Beratungen, Coachings und Mediationen organisiert die Personalabteilung Führungskurse, die allen Vorgesetzten empfohlen werden. Zudem werden Weiterbildungen zu verschiedenen Führungsthemen für Einzelpersonen und ganze Abteilungen angeboten. Letztes Jahr wurde ausserdem das «Leadership 4to7»-Seminar eingeführt, indem insbesondere Assistenzprofessorinnen und -professoren ihre Erfahrungen austauschen und voneinander lernen können. Die beiden letzten Seminare fanden zu den Themen Doktorandenbetreuung und Rekrutierung statt.
Mitarbeitende sind Partner
Diese beiden Themen spielen für den Erfolg unserer Hochschule eine grosse Rolle. «Wie bereichernd ein partnerschaftliches Verhältnis zwischen Doktorand und Professor für beide Seiten ist, weiss ich aus eigener Erfahrung», sagt ETH-Präsident Lino Guzzella und betont: «Die ETH ist ein Expertennetzwerk. Hierarchien sind bei uns nicht die entscheidende Komponente, sondern ein kooperativer, wertschätzender und vertrauensvoller Umgang, der auf Diskussionen basiert und den Mitarbeitenden viel Freiraum, Verantwortung und eine Weiterentwicklung ermöglicht.» Deshalb ist neben Fach- und Führungskompetenzen auch die Persönlichkeit bei Berufungen von Professoren und Besetzungen von Leitungspositionen entscheidend. «Potenzielle Führungspersonen müssen zur Gruppendynamik des Teams und zur ETH-Kultur passen, denn sie sind essenziell für unseren Erfolg», sagt Lino Guzzella.
Grundsätzlich sei die Führungskultur an der ETH in den letzten Jahrzehnten offener und kollegialer geworden, was sich positiv auf die Motivation, die Leistungsbereitschaft und somit auch auf die Ergebnisse aller auswirke. Das hohe Niveau aufrechtzuerhalten, sei aber eine permanente Aufgabe, und jeder Verstoss gegen unsere Respektkultur sei einer zu viel.
«Unterstellte verdienen den unbedingten Respekt ihrer Vorgesetzten; die Letzteren hingegen müssen sich den Respekt ihrer Mitarbeitenden erarbeiten», sagt Lino Guzzella. Um dies zu erreichen, müssen Vorgesetzte ihren Mitarbeitenden helfen, die gemeinsam definierten Ziele zu erreichen, sich persönlich weiterzuentwickeln und damit zum Erfolg der ETH beizutragen.
Mitarbeitende sollen als Partner behandelt werden. Gleichzeitig müssen Vorgesetzte die sehr hohe Qualität an der ETH sicherstellen und wichtige – teils auch unangenehme – Entscheidungen treffen. «Beides in Einklang zu bringen, ist ein Spannungsfeld und eine grosse Herausforderung, das muss uns allen bewusst sein», sagt Ulrich Weidmann.
Jede Verbesserung braucht Veränderung
In den meisten Fällen sind die Mitarbeitenden mit dem Verhalten ihrer Vorgesetzten zufrieden: Bei der letzten Mitarbeiterbefragung vor zwei Jahren beurteilten 88 Prozent der ETH-Angehörigen ihre Führungsperson sehr positiv oder positiv.
Verbesserungspotenzial gebe es aber immer, sagt Lukas Vonesch. Letztes Jahr hat das HR gemeinsam mit der Stelle für Chancengleichheit Equal und weiteren Abteilungen eine neue Respekt-Kampagne lanciert und einen verbindlichen Verhaltenskodex ausgearbeitet, der im April an alle ETH-Angehörigen verschickt wurde. Momentan erarbeiten verschiedene Stellen ein Massnahmenpaket, mit dem unter anderem die Prozesse bei Beschwerden, die Doktorandenbetreuung sowie die Einführung von Professorinnen und Professoren weiter verbessert werden sollen.
Für eine Verbesserung ist aber auch immer eine Veränderungsbereitschaft notwendig. Wie wichtig diese ist, musste Laura Nyström vor ein paar Jahren feststellen, als sich ihre Forschungsgruppe in kurzer Zeit stark vergrösserte. «Die Stimmung verschlechterte sich und die Kritik wuchs», erinnert sich die Professorin. Zusammen mit ihren Mitarbeitenden entwickelte sie Lösungen, übertrug mehr Verantwortung an sie und delegierte Aufgaben, für die zuvor sie zuständig war. Mit Erfolg: «Dass meine Mitarbeitenden wieder glücklich und mit mir zufrieden sind, weiss ich durch unsere regelmässigen Gespräche. Der ALEA Award hat mich aber trotzdem überrascht – und sehr gefreut.»
Gewünschte Führungskultur fördern
Mit dem ALEA Award soll die grosse Bedeutung des Führungsverhaltens betont und die gewünschte Führungskultur gefördert werden. Initiiert wurde er 2007 von der Mittelbauvereinigung AVETH. Jedes Jahr gehen zwischen 40 und 50 Nominierungen ein, die meisten davon betreffen Professorinnen und Professoren. Eine Jury, bestehend aus einer Ombudsperson sowie Vertretern von HR, Equal, AVETH und der Personalkommission zeichnet die Führungsperson aus, die sie am meisten als Vorbild sieht.
«Laura begegnet allen Mitarbeitenden mit dem höchsten Respekt und auf demselben Level. Wir finden stets ein offenes Ohr für unsere Vorschläge, Fragen und Wünsche. Sie nimmt Anregungen immer positiv auf, wobei wichtige Entscheidungen bezüglich der Forschungsgruppe häufig gemeinsam gefällt werden», schrieben die Mitarbeitenden von Laura Nyström in ihre Nominierung und: «Sie zeigt eine grosse Wertschätzung und geht auf die individuellen Bedürfnisse von uns ein, fördert unsere Stärken und hilft uns, wenn wir nicht weiterkommen.
Laura lebt die Vereinbarkeit von Beruf, Familie und anderen Leidenschaften vor und erwartet nichts von uns, was sie nicht auch selbst leistet – sei es die Arbeitskultur, das Feriennehmen oder die Freude an nebenberuflichem Engagement. Ihre Philosophie ist ganz klar: glückliche Gruppenmitglieder = gute Forschung.»
Das neue ETH-Magazin «life» ist da
Dieser Artikel ist die Titelgeschichte des aktuellen «life».
In der neuen Ausgabe zeigt der Kommunikationsleiter Rainer Borer auf, wie es um die Reputation der ETH bestellt ist und welcher Fokus zukünftig in der Kommunkation gelegt wird. Ausserdem berichtet «life», wie die Lehre mit modernen Instrumenten weiterentwickelt wird und Lukas Reichart erklärt, was er in seiner Funktion als VSETH-Präsident gelernt hat.