«Wir wollen Raum bieten für einen faktenbasierten und respektvollen akademischen Diskurs»
Angesichts der Nahostkrise betont ETH-Präsident Joël Mesot im Interview die Wichtigkeit eines faktenbasierten und respektvollen Dialogs innerhalb der Hochschule und kündigt für diesen Freitag eine Dialogveranstaltung für ETH-Angehörige an.
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Joël Mesot, vor Kurzem ist das Frühjahrssemester zu Ende gegangen, in der öffentlichen Wahrnehmung ein turbulentes für die Schweizer Hochschulen. Wie haben Sie dieses erlebt?
Neben all den schönen Seiten, die die Arbeit an der ETH mit sich bringt, haben mich vor allem zwei Themen beschäftigt: die finanziellen Herausforderungen und natürlich die durch die Situation im Nahen Osten ausgelösten Protestaktionen an allen Hochschulen, die mich stark bewegt und vor allem auch besorgt haben.
Was genau macht Ihnen Sorgen?
Ich bin tief betroffen vom unermesslichen Leid, welches durch die Gewalt auf beiden Seiten in Israel und Palästina entstanden ist. Deshalb sind meine Gedanken in erster Linie bei allen Personen, die vom Konflikt betroffen sind: den Opfern des Terrorangriffs der Hamas und ihren Angehörigen ebenso wie den Menschen in Gaza, welche massiv unter den kriegerischen Auseinandersetzungen und der katastrophalen humanitären Situation leiden. Ich hoffe sehr, dass die gegnerischen Parteien möglichst schnell einen Weg aus dieser Gewaltspirale finden.
Inwiefern betrifft diese Situation unsere Hochschule?
An der ETH gibt es vom Konflikt direkt betroffene Menschen. Sie studieren, forschen oder arbeiten mitten unter uns und sind derzeit in emotionaler Not und Sorge um ihre Freunde, ihre Familien und die Zukunft ihrer Heimat. Ihnen allen wünsche ich viel Kraft in dieser schwierigen Zeit. Sorgen bereitet mir auch, dass die ETH sich mit einer Radikalisierung konfrontiert sieht: Eine sehr kleine, grösstenteils externe Gruppierung nutzt die Hochschule als Plattform und konfrontiert uns mit radikalen Forderungen, denen wir einfach nicht zustimmen können, etwa weil sie die akademische Freiheit grundlegend in Frage stellen. Als Hochschule können wir einzig zu einer faktenbasierten Auseinandersetzung beitragen und damit ein Umfeld schaffen, in dem auch kontroverse Perspektiven respektvoll diskutiert werden können.
Weshalb sagt die ETH Nein zu Forderungen wie einem Boykott israelischer Universitäten oder dem Stopp aller wissenschaftlichen Kontakte mit israelischen Forschenden?
Ein akademischer Boykott würde unserem Grundsatz der Forschungsfreiheit diametral widersprechen und kommt nicht in Frage. Gerade wenn politische und diplomatische Wege blockiert sind, ist die akademische Zusammenarbeit eine Brücke, die wir intakt lassen sollten. Wir sind uns aber der problematischen Aspekte der wissenschaftlichen Zusammenarbeit durchaus bewusst. So sind wir beim Thema «Dual Use» – also der möglichen militärischen Verwendung von wissenschaftlichen Ergebnissen – schon jetzt sehr vorsichtig. Wir haben klare Prozesse und mit der Exportkontrollstelle auch Expert:innen im Haus, die kritische Projekte und Zusammenarbeiten prüfen und nötigenfalls auch ablehnen.
Wäre es aber nicht Aufgabe einer Hochschule, kritische Auseinandersetzungen mit der Situation in Gaza zuzulassen und nicht einfach zu unterbinden?
Eine wirklich kritische Auseinandersetzung auf jeden Fall. Das geschieht in verschiedenen Fachgebieten an der ETH auf wissenschaftlicher Basis bereits seit Jahren. Als internationale Hochschule mit Menschen aus über 120 Nationen ist es unsere Pflicht, für ein Klima des gegenseitigen Respekts und Zuhörens zu sorgen. Da ist es nicht akzeptabel, wenn andere Perspektiven und Meinungen nicht mehr zugelassen werden oder sich einzelne ETH-Angehörige nicht mehr willkommen fühlen. Rassismus, Antisemitismus und Vorurteile aufgrund von Religion oder Herkunft dulden wir in keiner Art und Weise. Was wir wollen, ist ein konstruktiver Dialog.
Die Protestierenden betonen aber, dass Ihnen genau dieser Dialog von der ETH verweigert wird.
Die Schulleitung war und ist immer offen für den Dialog und hat diesen den Demonstrierenden unmittelbar nach der ersten Besetzung auch angeboten. Doch wir lassen uns die Bedingungen dazu nicht von einer Gruppierung diktieren, die immer noch anonym auftritt. Zu einem Dialog gehört, dass man einander zuhört, andere Sichtweisen akzeptiert und mit dem eigenen Namen hinsteht.
Polizei vor und im ETH-Hauptgebäude - das passt doch nicht zu den Werten der ETH?
Die Protestaktionen in der Haupthalle mögen in friedlicher Absicht organisiert sein, doch sie waren unbewilligt, störten den Betrieb und wurden von Vielen als aggressiv und bedrohlich wahrgenommen. Darum haben wir unsere Fürsorgepflicht gegenüber allen Mitarbeitenden und Studierenden wahrgenommen und entsprechend gehandelt.
Das Thema lässt sich so aber nicht einfach vom Campus verbannen, oder?
Nein, verbannen ist keinesfalls das Ziel. Im Gegenteil: Es ist uns wichtig, dass wir uns des Themas annehmen und Raum schaffen für einen faktenbasierten und respektvollen akademischen Diskurs, auch wenn dies unter den Umständen der eskalierenden Gewalt sehr anspruchsvoll ist. Die Schulleitung sucht den Dialog mit allen involvierten und betroffenen ETH-Angehörigen und hat schon viele Gespräche mit beteiligten Personen und Gruppierungen geführt. Zudem haben wir entschieden, dass wir für alle interessierten ETH-Angehörigen noch in dieser Woche eine Dialogveranstaltung zum Thema anbieten werden.
Dialogveranstaltung der Schulleitung
Am Freitag, 21. Juni 2024 lädt die Schulleitung alle interessierten ETH-Angehörigen zu einer Dialogveranstaltung ein, um über die direkten Folgen des Nahostkonfliktes für die Hochschule und unseren Umgang damit zu diskutieren.
Neben Präsident Joël Mesot werden Rektor Günther Dissertori, der Vizepräsident für Forschung, Christian Wolfrum und die Vizepräsidentin für Personalentwicklung und Leadership, Julia Dannath, anwesend sein. Moderiert wird der Anlass vom Departementsvorsteher Lars-Erik Cederman (GESS).
Die Veranstaltung findet im Hauptgebäude im Hörsaal E 7 statt, beginnt um 10.30 Uhr und dauert bis 12.00 Uhr.
Es sind ausschliesslich Angehörige der ETH Zürich zugelassen, weshalb eine Eingangskontrolle stattfindet. Bitte die ETH-Karte mitbringen. Um eine möglichst offene Diskussion zu ermöglichen, wird auf eine Live-Übertragung und Videoaufzeichnung der Veranstaltung verzichtet.
Wenn die Fronten so verhärtet sind, ist es denn überhaupt noch möglich, kontroverse Diskussionen auf akademischem Niveau zu führen?
Innerhalb der ETH-Community war und ist diese akademische Auseinandersetzung immer noch möglich. Ich möchte betonen, dass sich die grosse Mehrheit an die Regeln des akademischen Diskurses und des respektvollen Umgangs miteinander hält. Ich bin überzeugt, dass dies auch am Freitag an unserer Dialogveranstaltung so sein wird.
Die Schulleitung hat gesagt, dass die ETH keine Plattform biete für politischen Aktivismus. Sollen unsere Angehörigen völlig apolitisch agieren?
Einige Rückmeldungen zeigen, dass unsere Haltung in diesem Punkt falsch interpretiert werden konnte. Wir haben offenbar nicht alle das gleiche Verständnis davon, was unter «politischem Aktivismus» zu verstehen ist. Selbstverständlich sollen politisch kontroverse Themen an der ETH weiter diskutiert werden dürfen. Und selbstverständlich müssen wir in Gebieten, in denen unsere wissenschaftliche Expertise essenziell ist, auch öffentlichen Gegenwind aushalten.
Und wo hat denn das politische Engagement ein Ende?
Wenn es nur darum geht, die eigene Position durchzusetzen ohne andere Argumente und Sichtweisen zuzulassen, dann hat das nichts mehr mit wissenschaftlichem Diskurs zu tun. Auch die akademische Freiheit ist keine Basis für ein solches Verhalten. Dafür bietet die ETH Zürich keine Plattform. Damit würden wir und unsere Angehörigen zu rein politischen Akteuren und die Glaubwürdigkeit als Wissenschaftler:innen verlieren.
Einzelne Forschungsrichtungen wie beispielsweise «Urban Studies» oder Untersuchungen der kolonialen Vergangenheit sind im Zusammenhang mit dem Palästina-Konflikt medial unter Druck geraten. Auch Angehörige der ETH Zürich forschen teilweise in solchen Gebieten. Was ist hier die Haltung der Schulleitung?
Wir werden immer in Themenbereichen forschen, die in der Öffentlichkeit kritisch betrachtet werden. Solche Widerstände müssen wir aushalten. Aber in diesem Punkt sind wir völlig klar: Die ETH Zürich lässt sich niemals von aussen vorschreiben, worüber geforscht werden soll. Das ist essenziell und sogar im ETH-Gesetz festgeschrieben. Wir verteidigen diese Forschungsfreiheit mit Vehemenz. Freiheit bringt aber auch Verantwortung mit sich: Wir haben uns alle an die Regeln des akademischen Diskurses zu halten, sonst schneiden wir uns ins eigene Fleisch und provozieren Eingriffe in diese essenzielle Freiheit.
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