«rETHink gibt uns die Chance, die Lehren aus der Krise zu ziehen»
Die Pandemie ist auch für den Organisationsentwicklungsprozess «rETHink» ein Einschnitt. ETH-Präsident Joël Mesot erklärt, wo das Projekt steht und welche Herausforderungen und Chancen es bietet.
Herr Mesot, im Februar haben Sie den ETH-Angehörigen in einer Townhall den rETHink-Projektplan vorgestellt. Damals war noch nicht absehbar, mit welcher Wucht unser Alltag von der Pandemie erfasst wird. Was bedeutete das für den Projektverlauf?
Joël Mesot: Natürlich deutliche Verzögerungen. Doch rETHink ist zum Glück umsichtig aufgegleist und deshalb grundsätzlich gut unterwegs. Die Workstreams 2, Professuren, und 6, ETH-Kulturentwicklung, führten Anfang März noch ihre Kickoffs durch. Vom Beginn des Lockdowns bis Ende April mussten wir rETHink als Ganzes praktisch sistieren, weil alle administrativen und akademischen Bereiche der ETH durch den Aufbau des ETH-Notbetriebs extrem beansprucht waren. Danach wurden die Arbeiten in den Workstreams 2 und 6 wieder aufgenommen, umständehalber vor allem über das Web. Seither laufen die Arbeiten intensiv. So liegen im Workstream Professuren die nötigen Basisdaten vor, und drei grosse Arbeitspakete sind definiert und zugewiesen; je eines zu den Grundsatzfragen, zu Aufgaben wie Outreach und institutionelles Engagement und zu Führung, Zusammenarbeit und Organisation. Und der Workstream 6 ist daran, eine breite Diskussion über die Werte zu lancieren, die an der ETH gelebt werden. Wir wollen herausfinden, an welchen Werten wir uns heute orientieren und welche künftig für uns alle Gültigkeit haben sollen.
Wo stehen die übrigen Workstreams?
Den operativen Auftakt der Workstreams 4, Organisation Departemente, und 5, Organisation der Zentralen Organe, mussten wir um rund ein Quartal verschieben. Vorbereitungsarbeiten, etwa die personelle Besetzung, sind aber auch hier im Gang, und den Start haben wir auf Ende November terminiert. Workstream 3, in welchem Instrumente für den Support und die Begleitung der Professuren entwickelt werden, sollte gemäss ursprünglicher Planung erst im ersten Quartal 2021 starten. Ich rechne damit, dass das es hier zu keiner Verzögerung kommt. Hingegen hätte ich mir – unabhängig von Corona – im Workstream 1, Grundarchitektur der Schulleitung und Gremien, ein schnelleres Vorankommen gewünscht.
Diesen Workstream hat die Schulleitung im letzten Jahr ja forciert. Wie sieht es aus mit der Besetzung der beiden neu geschaffenen Schulleitungsfunktionen?
Wir hatten uns als Schulleitung vorgenommen die Leitungspersonen für die zwei neuen Bereiche für Personalentwicklung und Leadership sowie für Wissenstransfer und Wirtschaftsbeziehungen im ersten Halbjahr 2020 zu ernennen und im zweiten in ihre Aufgaben einzuführen. Das liess sich nicht so zügig umsetzen wie erhofft.
Aus welchem Grund?
Bei der Besetzung so wichtiger und anspruchsvoller Führungspositionen müssen viele Kriterien erfüllt sein und wie bei einem Puzzle perfekt zusammenpassen. Obwohl uns zahlreiche Kandidaturen mit hervorragendem Profil vorlagen, benötigte dieser «match» mehr Zeit als erwartet. Ich bin nun zuversichtlich, die neuen Schulleitungsmitglieder bis Ende Jahr vorstellen zu können.
Sie haben verschiedentlich erwähnt, dass die Coronakrise auch Chancen für die Entwicklung der Hochschule eröffnet. Das ist ja auch das Ziel von rETHink. Beschleunigt die Krise die Reform der Organisation?
Zum Teil sicher. Grosse Krisen sind schonungslos. Sie verursachen immense Schäden und persönliche Dramen, sind aber auch ein Anstoss für notwendige Veränderungen. Als Hochschule sollten wir aus den jüngsten Erfahrungen die richtigen Schlüsse und Lehren zu ziehen. Jetzt schon erkennbar sind die Folgen für die Lehre. Unsere Dozierenden werden ihre digitalen Lehrkonzepte rascher weiterentwickeln und verbessern, ohne den Präsenzunterricht zu vernachlässigen. Ebenfalls klar ist, dass wir die digitale Unterstützung des Arbeitens – Stichworte Homeoffice und Videokonferenzen – konsequent in der ETH verankern.
Zeichnen sich noch andere Entwicklungen ab?
Die Digitalisierung zu fördern, haben wir auch dem Teilprojekt 5, der Entwicklung der Zentralen Organe, mit auf den Weg gegeben. Das Ziel hier lautet: möglichst schlanke und effiziente Dienstleistungen und Prozesse für die ganze ETH bereitzustellen.
Bezüglich Forschung und Entwicklung hat mich beeindruckt, wie die ETH im Notbetrieb ihre Stärken ausgespielt und in kürzester Zeit wichtige und nutzbringende Beiträge geliefert hat, um nur einige zu nennen: die SwissCovid App, die epidemiologischen Studien zur Analyse der Verbreitungswege des Virus oder die Entwicklung eines günstigen Beatmungsgeräts, speziell für ärmere Länder. Diese Erfolge kamen zustande, weil alle Beteiligten riesiges Engagement und Teamgeist bewiesen haben, weil wir seit vielen Jahren auf höchstem Niveau in Talente und Infrastruktur investieren und weil wir national und international über ein starkes Netzwerk verfügen. Das sind wichtige Anhaltspunkte für unsere Weiterentwicklung. Das Projekt «rETHink» kam so gesehen zur richtigen Zeit. Es ermöglicht uns, die Lehren aus der Coronakrise zu ziehen.
Ein Merkmal von rETHink ist sein partizipativer Charakter. Kann dieses Prinzip aufrecht erhalten werden, wenn physische Treffen auf absehbare Zeit eingeschränkt bleiben?
Das ist ein zentraler Punkt. Eine breite Mitwirkung und Abstützung ist für den Erfolg von rETHink entscheidend, denn Eigenverantwortung wahrnehmen gehört zur Kultur der ETH; unsere Organisation kann nur gemeinsam mit unseren Angehörigen aller Stufen und Bereiche weiterentwickelt werden. Der Austausch und die Arbeit in den Projektteams sind im Moment sicher anspruchsvoller, aber nicht weniger produktiv. Ich ermuntere interessierte ETH-Angehörige, sich davon nicht abschrecken zu lassen. Nutzen Sie die Chance, rETHink und damit die Zukunft unserer Hochschule mitzugestalten!
Wo sehen Sie konkrete Mitwirkungsmöglichkeiten?
Im Workstream ‘Professur’ etwa sind allein für die Fokusgruppen, die einen umfassenden Blick auf dieses Thema ermöglichen sollen, insgesamt über 100 ETH-Angehörige vorgesehen. Solche Resonanzgruppen wollen wir auch für die anderen Workstreams schaffen. Wenn Sie Interesse haben, setzen Sie sich mit der Präsidentin resp. dem Präsidenten ihrer Standesvertretung in Verbindung und teilen Sie ihr bzw. ihm mit, in welchem thematischen Bereich und wie intensiv Sie mitwirken wollen. Ich freue mich über eine möglichst grosse und lebendige Beteiligung.
Das Projekt rETHink hat wieder Tritt gefasst. Was ist nun wichtig, und wo liegen die Herausforderungen der nächsten Zeit?
Die ETH-Community muss überzeugt sein, dass sich unsere Hochschule weiterentwickeln muss, und sie sollte diesen Prozess motiviert mitgestalten. Für den notwendigen Schwung haben wir als Schulleitung zu sorgen, zusammen mit dem Projektleitungsteam und den Kolleginnen und Kollegen, welche die einzelnen Workstreams operativ leiten. Das bedeutet viel Arbeit, vor allem auch viel Dialog, auf den ich aber gespannt bin und der uns alle bereichern wird.