«rETHink ist zu einem Projekt der ganzen ETH geworden»
Die Analysephase des Organisationsentwicklungsprojektes rETHink ist abgeschlossen, die wichtigsten Handlungsfelder sind definiert. Jetzt geht es um die Erarbeitung von Lösungen, sagt ETH-Präsident Joël Mesot im Interview. Die ersten Entscheide fallen gegen Ende dieses Jahres.
Herr Mesot, das Projekt rETHink hat mit dem Abschluss der Analysephase einen ersten Meilenstein erreicht. Was geht in Ihnen vor?
Als uns vor gut einem Monat an einer Schulleitungsklausur die Resultate der Analyse präsentiert wurden, war ich überwältigt. Zunächst einmal einfach von der enormen Arbeit, die hier geleistet wurde, und für die ich mich bedanken möchte. Über 600 ETH-Angehörige haben sich in den vergangenen Monaten intensiv mit der Art und Weise beschäftigt, wie wir zusammenarbeiten und organisiert sind. Sie haben dabei ohne Scheuklappen analysiert, welche Stärken wir weiter bewahren wollen und wo wir uns verbessern müssen.
Die ETH gehört zu den besten Hochschulen der Welt. Wo genau wollen Sie da mit rETHink noch hin?
Ja, die ETH ist heute ausgezeichnet positioniert und steht im internationalen Vergleich hervorragend da. Doch der Rückschluss, dass es demnach nichts zu verbessern gäbe, würde nicht dem Spirit der ETH entsprechen. Wenn wir an die Zukunft dieser hervorragenden Schule denken, dann ist klar, dass wir uns auch auf organisatorischer Ebene weiterentwickeln müssen. Mit rETHink wollen wir die Zusammenarbeit innerhalb unserer Organisation so verbessern, dass wir künftig wieder mehr Energie und Freiräume für unser Kerngeschäft also Forschung, Lehre und Wissenstransfer haben.
Und was hat die Analyse ergeben?
Wir haben bei rETHink entschieden, die Organisation von der Professur her zu denken, also von der Organisationseinheit, in der die Kernaufgaben Forschung, Lehre sowie Wissens- und Technologietransfer wahrgenommen werden. Ein Workstream mit ETH-Angehörigen aus allen Hochschulgruppen hat sich den Aufgaben und Herausforderungen der Professur gewidmet. Sie geniesst an der ETH seit jeher eine grosse Freiheit. Die Arbeitsgruppe kam zum Schluss, dass diese Autonomie ein wesentlicher Erfolgsfaktor ist, sie wurde als schlagendes Herz der ETH bezeichnet - ein sehr schönes Bild, wie ich finde. Gleichzeitig stellte die Arbeitsgruppe auch fest, dass es gewisse Leitplanken braucht, damit die Autonomie im Sinne der Gesamtinstitution gelebt werden kann.
Können Sie dazu ein Beispiel geben?
Da geht es zum Beispiel um die Organisation innerhalb der Professur oder die Art und Weise der Zusammenarbeit mit anderen Einheiten. Die Anforderungen sind in den letzten Jahren stark gestiegen: Die Studierendenzahlen sind gewachsen, weshalb mehr Lehrleistungen erbracht werden müssen. Ebenso die Anzahl Professuren sowie die disziplinenübergreifende Zusammenarbeit, was zu höherem Koordinationsbedarf führt. Von den Forschenden wird zudem erwartet, dass sie noch mehr und enger mit der Industrie zusammenarbeiten, Drittmittel einwerben und ihre Erkenntnisse vermehrt auch direkt der Bevölkerung präsentieren. Lehre, Forschung, Technologietransfer, Kommunikation nach Aussen oder auch die Übernahme von Aufgaben im Rahmen der akademischen Selbstverwaltung: Die Arbeitsgruppe erkannte, dass unseren Professorinnen und Professoren für all diese Aufgaben immer öfter die Zeit fehlt. Wo wir unmittelbaren Handlungsbedarf erkennen, leiten wir sofort Massnahmen ein, etwa indem wir die Leistungsträger der Schule in ihren Kommunikationsfähigkeiten unterstützen und ab Herbstsemester Weiterbildungen im Rahmen einer «Communication Academy» anbieten. Mit rETHink wollen wir neue Lösungen erarbeiten und unsere Organisation so weiterentwickeln, dass allen mehr Zeit für die Kernaufgaben bleiben.
«Mit rETHink wollen wir die Organisation so weiterentwickeln, dass allen mehr Zeit für die Kernaufgaben bleiben.»Joël Mesot
Diese Ergebnisse tönen nicht sehr überraschend…
Da haben Sie recht. Mich haben sie auch nicht überrascht. Doch die Analysen gingen natürlich tiefer. Und wie in solchen Prozessen üblich, wurden auch bereits erste Lösungsansätze diskutiert. So kamen Ideen auf, die mich tatsächlich überraschten, etwa vermehrt Ressourcen wie Räume mit anderen Professuren zu teilen. So hat die Arbeitsgruppe erkannt, dass sich der Raumbedarf einer Professur in den verschiedenen Phasen ihres Lebenszyklus verändert und wir diesem Umstand in der Raumplanung stärker Rechnung tragen sollten.
Die Professuren sind das eine, die Organisation der Departemente das andere. Welche Erkenntnisse haben sich da ergeben?
Da stellen sich laut den Analyseergebnissen in der Tat teils grundsätzlichere Fragen. So zeigt sich, dass unsere Strukturen und Prozesse teilweise hinter den Entwicklungen herhinken. Insbesondere die Führungsstrukturen sind oft überlastet. Damit ist unser starkes Wachstum angesprochen: Die informellen Prozesse, die eine schnelle Abstimmung und rasche Entscheide erlauben, scheinen an eine Grenze gekommen zu sein. Hier wollen wir ansetzen und unsere Prozesse effizienter gestalten, so dass wir alle weniger Zeit für Administratives benötigen.
Und wie sieht es bei den Zentralen Organen aus?
Auch sie spüren das starke Wachstum der ETH. Ihnen wurden in der Analyse eine hohe Kompetenz und ein hoher Leistungswille attestiert, gleichzeitig zeigte sich, dass sich viele Mitarbeitende überlastet fühlen. Schwächen zeigen sich auch bei der Zusammenarbeit und in der Kommunikation zwischen den Zentralen Organen sowie zwischen der Verwaltung und den Departementen. Generell ist in den Zentralen Organen das Interesse am Projekt sehr gross, hier gibt es auch hohe Erwartungen an rETHink.
Können Sie diesen Erwartungen gerecht werden?
Wir können sicher nicht alle Erwartungen sofort erfüllen. Für mich ist rETHink ein andauernder Prozess, in dem wir die für die ETH relevanten Zukunftsthemen priorisieren und kontinuierlich bearbeiten. Mit dem Abschluss der Analysephase geht es nun an die Erarbeitung von Lösungen. Dabei müssen wir alle auch mit Unsicherheiten umgehen. Erwartungen und Wünsche können sich mit der Zeit ändern, wenn man andere Argumente hört und sich auf andere Sichtweisen einlässt. Deshalb ist es wichtig, dass sich auch in dieser Phase viele ETH-Angehörige an der Diskussion beteiligen. Und dass wir diese Diskussion offen und verantwortungsbewusst führen. Gerade diese Vielfalt von Positionen und Meinungen machen unsere Stärke aus – und die wollen wir auch bei rETHink voll ausspielen.
Wie geht es denn nun konkret weiter bei rETHink?
Erlauben Sie mir zuerst noch einen Blick zurück: Die ETH hat in den vergangenen zwei Jahren bewiesen, dass sie sich ziemlich schnell weiterentwickeln kann. So haben wir unabhängig von rETHink eine neue Doktoratsverordnung erarbeitet und sind daran, die Richtlinien zur Guten Wissenschaftlichen Praxis zu überarbeiten. Unser Begrüssungs-Programm für neue Professorinnen und Professoren ist ebenso wie die «leadership4faculty-Kurse» inzwischen zum Vorbild für viele andere Hochschulen geworden. Es ist unglaublich viel in Schwung gekommen in den letzten Monaten, auch durch den Elan der beiden neuen Vizepräsidentinnen. Innerhalb von rETHink haben wir für jeden Workstream drei Handlungsfelder definiert, die noch dieses Jahr angegangen werden sollen (vgl. Liste unten). Anfang Oktober wird eine rETHink-Versammlung mit den Mitwirkenden aller Workstreams stattfinden. So werden die Resultate zusammengetragen und übergreifend diskutiert. Ende Jahr geht dann ein erstes Paket an Lösungsvorschlägen an die Schulleitung. Themen sind der Lebenszyklus von Professuren, Führungsfragen oder die Professurenplanung.
Sie sprechen von Vorschlägen?
Das ist richtig. Der Prozess sieht vor, dass in den Workstreams konkrete Lösungen erarbeitet und diese dann in der Organisation diskutiert werden. Die Entscheide fallen dann in der Schulleitung. Deshalb ist es zentral, dass bei rETHink die Mitwirkung im Vorfeld der Entscheide tiefer und breiter ist als bei gewöhnlichen Geschäften.
«Über die kommenden Monate wird rETHink noch viel mehr zu leben beginnen.»Joël Mesot
Wann fallen erste Entscheide, die über Organisationsfragen der Professur hinausgehen?
Zusätzlich zu den laufenden Verbesserungen erwarten wir im Frühjahr 2022 weitere Antworten, beispielsweise eine Klärung des grundsätzlichen Rollenverständnisses der drei institutionellen Ebenen Schule, Departement und Professur und daraus abgeleitet eine Klärung der Aufgaben, Kompetenzen und Verantwortlichkeiten. Damit einher geht ein gemeinsames Verständnis der Zusammenarbeit zwischen den Departementen und den Zentralen Organen. Für die Organisation der Departemente, also deren Betriebs- und Führungsstrukturen, sollen bis Ende 2022 eine Art «Best practices» und gewisse Mindeststandards erarbeitet sein.
Das dauert ja noch ziemlich lange. Wann aber werden die Mitarbeitenden und Studierenden etwas von rETHink spüren?
Das ist eine gute Frage, doch sie ist schwierig zu beantworten. Fest steht: Es werden nicht alle ETH-Angehörigen gleich stark tangiert sein. Es wird auch nicht einen Tag X geben, an dem wir einen Hebel umlegen und ab dem rETHink gilt. Es ist ja bereits in den vergangenen zwei Jahren sehr viel passiert. Zum Teil direkt initiiert durch rETHink, zum Teil beschleunigt durch das Projekt. So wird es weiterhin verschiedene Anstösse geben, die etwas in Bewegung bringen. Ähnlich wie Wellen, wenn Sie einen Stein ins Wasser werfen.
Doch es wird sicher auch neue Regelwerke geben. Manchenorts herrscht auch die Befürchtung von bürokratischen Auswüchsen…
Um diese Befürchtung wissen wir in der Schulleitung. Zwar wird rETHink mit hoher Wahrscheinlichkeit Anpassungen im Regelwerk der ETH nach sich ziehen, etwa in der Organisationsverordnung oder in Weisungen. Gleichzeitig gehe ich davon aus, dass wir auch die eine oder andere bestehende Regel streichen können. Wichtig ist mir aber zu betonen, dass sich rETHink nicht primär im schriftlichen Regelwerk manifestieren wird. Die Arbeit an der ETH ist viel stärker durch informelle Regeln, Erfahrungen und unseren Vorstellungen geprägt, zum Beispiel davon, wie wir in einem Team zusammenarbeiten. Dafür haben wir die Kulturdiskussion lanciert. Und deshalb ist es auch so wertvoll, dass sich bereits so viele ETH-Angehörige bei rETHink engagiert haben. Was belegt, dass die Mitarbeitenden gemeinsam die ETH voranbringen wollen und mit rETHink Hoffnungen verbinden. Sie haben aus dem Anstoss, den die Schulleitung vor zwei Jahren gegeben hat, ein Projekt der ganzen ETH gemacht. Und über die kommenden Monate wird rETHink noch viel mehr zu leben beginnen.
Zum Schluss eine persönliche Frage: Hatte rETHink bereits Auswirkungen auf Ihr Amt als ETH-Präsident?
Natürlich, wobei die wichtigste Auswirkung auf einen Entscheid der Schulleitung zurückgeht: Wir sind inzwischen sieben Personen in der Schulleitung. Wir haben mit den beiden neuen Kolleginnen an Diversität gewonnen. Diese Erweiterung ist für unser Team ein riesiger Gewinn und hat uns dazu bewegt, unsere Zusammenarbeit neu zu definieren. Auch dank der offenen Diskussionen rund um rETHink haben wir uns in kürzester Zeit zu einem tollen Team entwickelt.
Die wichtigsten Handlungsfelder von rETHink
Workstream 2 «Professuren»
Auftrag: Entwicklung und Umsetzung eines gemeinsamen und zukunftsfähigen Selbstverständnisses über die Professuren an der ETH und entsprechender Leitplanken.
- Aufgaben, Autonomie und Leitplanken der Professuren und breitere Abklärung zum Thema Lehrumfang
- Interne Organisation / Gruppenstrukturen der Professuren
- Flexiblere Nutzung von Ressourcen
Workstream 3 «Begleitung der Professorinnen und Professoren»
Auftrag: Die Unterstützung der Professorinnen und Professoren in ihrer persönlichen Entwicklung, ihrer Leadership-Funktion und ihrem Beitrag zur Gesamtinstitution.
- Unterstützung der Professorinnen und Professoren während ihrer gesamten Amtszeit
- Unterstützung von Professorinnen und Professoren beim Meistern neuer Führungsherausforderungen
- Reduktion der Belastung (Zeit, Energie, Risiken) beim Lösen schwieriger Situationen
Workstream 4 «Organisation der Departemente»
Entwicklung eines gemeinsamen Selbstverständnisses der Departemente, ihrer Kernaufgaben und Verantwortlichkeiten; Weiterentwicklung der Organisation und Prozesse.
- Zusammenarbeit zwischen Departementen und Zentralen Organen
- Verbesserungen im Betrieb der Departemente (Räume, Immobilien, Finanzen)
- Klärung von Aufgaben, Autonomie und Grundsätzen der Departemente
Workstream 5 «Organisation Zentrale Organe»
Ausrichtung der Leistungen, Prozesse, Aufgaben, Kompetenzen und Verantwortlichkeiten auf die Bedürfnisse der Professuren und Departemente; Vorantreiben der Digitalisierung.
- Umsetzung der Professurenplanung (Leitlinien, Umgang mit Opportunitäten, Controlling, Prozesse etc.)
- Digitalisierung: Themenfelder identifizieren (Prozesse, Technologien, Governance, Stakeholdermanagement etc.)
- Weitere acht Handlungsfelder (Positionierung Services, Drittmittelbeschaffung etc.)
Workstream 6 «Kulturentwicklung»
Weiterentwicklung der ETH-Kultur, um die Mission der ETH («Wegweisend in einer komplexen Welt») zu erfüllen.
- Anregung, Begleitung und Unterstützung von Kulturdiskussionen
- Aufgreifen von aktuellen Kultur- und Wertethemen
Townhall zum Abschluss der Analysephase
Am nächsten Dienstag, 29. Juni 2021 findet eine Zoom-Townhall zum Abschluss der Analysephase von rETHink statt. Von 12.00 bis 13.00 Uhr werden gesamte Schulleitung sowie die operativen Workstream-Leiterinnen und -Leiter die wichtigsten Resultate und die daraus abgeleiteten und priorisierten Handlungsfelder vorstellen. Wie immer besteht die Möglichkeit zu Fragen an die Verantwortlichen. Und wie immer steht auch eine englische Simultanübersetzung zur Verfügung.