Hindernisfreiheit betrifft uns alle
Die Behindertenrechts-Konvention der Vereinten Nationen (UN-BRK) fordert ein inklusives Bildungssystem – auch auf Ebene der Hochschulen. An einer Podiumsdiskussion am 20. April 2023 diskutierten betroffene Studierende, Dozierende und Personen mit Expertise im Bereich Lehre über Möglichkeiten und Grenzen von Zugänglichkeit in der Bildung.
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Professor Ulrich Weidmann, Vizepräsident für Infrastruktur, bringt es in seinem Grusswort auf den Punkt: «Jede Person kann betroffen sein, ob dauerhaft oder temporär. Behinderungen sind keine Ausnahme, sondern Teil der Realität. Mehr als jede zehnte Person an der ETH ist davon betroffen.»
Der Sportlehrer im Rollstuhl
David Mzee ist eine der betroffenen Personen. Er studiert Sportwissenschaften an der ETH, als er bei einem Training vom Trampolin einen Salto in die sogenannte «Schnitzelgrube» machte, eine mit Schaumstoffwürfeln gefüllte Vertiefung im Boden. Bei allen Sprüngen hat die Schnitzelgrube ihre Funktion erfüllt, doch bei diesem Salto schlug er auf den Boden durch. Seitdem ist er auf einen Rollstuhl angewiesen und musste seinen Alltag und auch sein Studium ganz neu organisieren: «Es ist verständlich, dass die ETH nicht maximal gut vorbereitet war auf einen Sportlehrer im Rollstuhl. Auf Seiten der Leute war es aber eine echte Freude: Institutsleiter, Dozierende, Studierende haben mich prima unterstützt. Ich wurde auch mal Treppen hinaufgetragen. Outdoor-Weekends in den Bergen waren hingegen eine Challenge.»
Hirnteile werden neu genutzt
Die neuen Herausforderungen im Alltag können dazu beitragen, dass sich neue Fähigkeiten entwickeln, wie Elsbeth Stern, Professorin für Lern- und Lehrforschung an der ETH, betont: «Durch wissenschaftliche Studien ist bekannt, dass bei Menschen, die blind sind, Hirnteile für visuelle Informationen für die Verarbeitung akustischer Informationen genutzt werden. Solche Menschen können im Gespräch sehr viel mehr Zwischentöne hören, schnell Stimmungen erfassen. Blinde Menschen werden zudem auch eingesetzt, um Tumore zu ertasten.»
Auch an der Podiumsdiskussion sind diese Fähigkeiten zu spüren. So beginnt beispielsweise Yvonn Scherrer ihre Moderation mit einer Aufforderung ans Publikum: «Ich merke, dass die Stimmung hier im Saal etwas schläfrig ist. Stehen Sie doch für einen Moment auf, schütteln Sie Ihrem Nachbarn die Hand und klopfen Sie auf den Stuhl!» Yvonn Scherrer ist blind, das heisst, die müden Gesichter kann sie nicht sehen, sondern nur die allgemeine Stimmung spüren.
Vier Voraussetzungen für barrierefreie Lehrmittel
Der aktive Start sorgt beim Publikum für Heiterkeit und erfüllt sein Ziel perfekt. Gespannt verfolgen die Zuhörenden die Erläuterungen von Gerd Kortemeyer, Leiter der Abteilung «Lehrentwicklung und -technologie». Worauf kommt es konkret an bei barrierefreien Lehrmitteln? Erstens muss es möglich sein, Dokumente zu navigieren, d. h. Überschriften müssen gesetzt werden. Zweitens sollten mathematische Formeln mit dem Screenreader vorlesbar sein. Ein Screenreader ist eine App, die digitale Inhalte vorliest und von sehbehinderten oder blinden Personen genutzt wird. Drittens sollten bei Grafen auch die Daten hinterlegt sein. Die Kurve ist nicht sichtbar, aber die Daten können von dem Screenreader vorgelesen werden. Viertens sollten Illustrationen Untertitel oder einen Alternativtext haben, d. h. eine Bildbeschreibung, sodass diese ebenfalls vorgelesen werden kann. Diese und weitere Möglichkeiten, Lehre und Lehrmittel barrierefrei zu gestalten, wurden in Videos und Comics anschaulich dargestellt.
Timo Stühlinger, der momentan Interdisziplinäre Naturwissenschaften studiert und eine Hörbehinderung hat, berichtet ebenfalls von Hindernissen im Studium: «Damit ich beispielsweise einer Vorlesung folgen kann, muss ich alles Gesagte direkt auf mein Hörgerät empfangen können. Teils funktionierten die Akustikanlagen nicht oder ich kann das Signal nur auf bestimmten Plätzen empfangen.»
Es wird klar und intensiv diskutiert: Die ETH ist mit dem Programm «Hindernisfreiheit an der ETH Zürich» auf einem guten Weg. Inklusion soll nicht bloss ein Trend sein, sondern nachhaltig als «ur-ETH-eigenste Haltung» an unserer Hochschule praktiziert werden, wie Ulrich Weidmann betont.
Hindernisfreiheit an der ETH Zürich
Die ETH Zürich setzt sich für Hindernisfreiheit ein: Menschen mit Behinderungen oder Menschen mit besonderen Bedürfnissen – seien es Studierende, Lehrende, Forschende, Mitarbeitende oder Besucherinnen und Besucher – sollen im Verlauf der nächsten Jahre weitgehend uneingeschränkten Zugang zu den Gebäuden und Dienstleistungen der ETH erhalten.
In 14 Teilprojekten werden die vorgeschlagenen Massnahmen in den drei Kategorien «Bauliches, Gebäudenutzung und Architektur», «Organisation und Kultur» und «Technologie, Kommunikation und Lehre» umgesetzt.
Weitere Informationen zum Programm und den 14 Teilprojekten finden Sie auf der Programmwebsite.
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