Die intelligente Kamera denkt mit
Die Software von Seervision bedient Kameras wie von Menschenhand und vereinfacht Videoübertragungen. Seine Wurzeln hat das Start-up an der ETH Zürich, wo Studenten einst einen klobigen Prototyp für Vorlesungsaufzeichnungen entwickelt hatten.
Die Corona-Krise hat Videos als Kommunikationsmittel einen starken Schub verliehen. Sitzungen, Präsentationen und sogar kulturelle Anlässe werden online übertragen. Wer in der Menge an audiovisuellen Live-Angeboten herausstechen will, muss eine hochwertige Darbietung liefern. Deshalb investieren immer mehr Unternehmen in die nötige Ausrüstung und Technologien, um ein besseres Erlebnis und hohe Qualität zu liefern. Das spürt auch Seervision, ein Spin-off der ETH Zürich.
Seervision entwickelt Software, um Kameras in Studios zu automatisieren. Auf diese Weise kann eine Person mühelos mehrere Kameras gleichzeitig bedienen und steuern. «Unternehmen können so professionelle Videos produzieren, ohne sich vor der Komplexität der Umsetzung oder den Kosten fürchten zu müssen», sagt Co-Gründer und CEO Nikos Kariotoglou. Genau danach suchen Firmen in Zeiten von Homeoffice.
«Die Welt wechselte auf einen Schlag zu Online- und Hybrid-Veranstaltungen», beschreibt er die Veränderung. Bis anhin bediente das Spin-off mit seiner Technologie vor allem Videoproduktionsfirmen, die sich mit Kameras und Live-Übertragungen bereits auskennen. Seit Beginn der Pandemie interessieren sich nun vermehrt Unternehmen aus verschiedenen Branchen dafür, die ein eigenes Studio einrichten wollen, um etwa ihre Geschäftszahlen online professionell zu präsentieren. So vergrösserte sich der Markt von Seervision von einem Moment auf den anderen, «davon waren wir positiv überrascht und unsere Verkaufsgespräche wurden viel einfacher», sagt Kariotoglou.
Software steuert mehrere Kameras
Kern ihrer Lösung bildet die Software, die künstliche Intelligenz, Bilderkennung und mathematische Vorhersagemodelle vereint. Sie kann die Bewegung einer Person im Bild antizipieren und die Kameras so schwenken, als würden sie von Menschen bedient. Dabei funktioniert die Software mit unterschiedlichen Kameras von verschiedenen Herstellern, was einen flexiblen und vielseitigen Einsatz der Technologie ermöglicht. Vom Computer aus kann eine Person bequem die gesamten Videoaufnahmen steuern, Bildausschnitte wählen und Präsentationsfolien oder Videos einspielen. Die Anwendung eignet sich besonders für Übertragungen, wenn das Budget zu klein ist für ein ganzes Team von Kameraleuten oder das technische Know-how fehlt. Das können Geschäftspräsentationen sein, kulturelle Anlässe wie Konzerte oder sogar die Aufzeichnung eines Tennisspiels.
Der Weg bis zur heutigen Lösung von Seervision war von verschiedenen Versuchen und Umwegen geprägt. Dass Nikos Kariotoglou überhaupt sein Doktorat in Steuerungstechnik an der ETH Zürich absolvierte, war dem Zufall geschuldet. Während seines Masterstudiums in Elektrotechnik am Imperial College in London machte er einen Austausch an der ETH Zürich. In dieser Zeit verletzte er sich beim Fussballspielen am Knie und sass von da im Labor des Instituts für Automatik fest (IFA). «Wäre das nicht passiert, wäre wohl vieles anders gelaufen», sagt er schmunzelnd. Er tüftelte an Robotern und war vom Labor so begeistert, dass er sich schliesslich für ein Doktorat bewarb.
Als Doktorand arbeitete Kariotoglou an ferngesteuerten Kameras und hatte die Idee, sie mit einem neuen Algorithmus zu verbessern. Die Kameras sollten intelligent auf die Bewegung eines Subjekts reagieren. Reto Hofmann, ein damaliger Masterstudent, nahm sich der Herausforderung an, ein solch intelligentes Kamerasystem zusammenzubauen für die Vorlesungen des Leiters des IFA, ETH-Professor John Lygeros. Der klobige, schwere Prototyp bildete den Grundstein für das Spin-off, das sie 2016 gründeten. Einige Monate später, als das System gedieh, hörte Conrad von Grebel von ihrer Idee. Der Besitzer einer Videoproduktionsfirma stieg kurzerhand beim Start-up als Mitgründer ein und brachte so wichtiges Branchenwissen ein.
Scheitern heisst lernen
Am Anfang des Unternehmens entwickelten die drei Gründer eine handliche Kamera – ähnlich einer Actioncam – sowie eine Kameraaufhängung mit intelligenter Steuerung namens «Bungito». Sie konnten Subjekte im Bild automatisch erkennen, deren Bewegung verfolgen und in diese Richtung schwenken. Jedoch kamen die Geräte nie über das Prototypstadium hinaus, denn das Team merkte, wie aufwändig und teuer die Entwicklung von Hardware für den Verbrauchermarkt tatsächlich ist. Darum entschieden sie sich, voll auf ihre Software zu setzen und sie weiterzuentwickeln.
«Ich bin froh, dass wir unsere Geschäftsidee verändert haben.» Kariotoglou ist sicher, dass die Umwege über die Hardware-Prototypen nötig waren und bezieht sich auf ein amerikanisches Unternehmersprichwort: «Man muss einige Male scheitern, weil das die einzigen Momente sind, wo man wirklich etwas lernt.» Auch wenn das Spin-off heute über ein marktfähiges Produkt verfügt und schon einige Auszeichnungen gewonnen hat, sieht der CEO noch einen langen Weg bis zum Erfolg. Was ihn antreibt ist die Ambition, «den Punkt zu erreichen, an dem wir wachsen und zugleich profitabel sind.» Gut möglich, dass die wachsende Bedeutung von Online-Events Seervision näher an diesen Punkt heranbringt.
Über Seervision
Seervision pflegt bis heute die Nähe zur ETH Zürich und ihrem Umfeld. Seinen Sitz hat das Spin-off in den Räumen von Wyss Zurich, dem vom Unternehmer Hansjörg Wyss finanzierten Accelerator, welcher ausgewählte Projekte aus den Bereichen Regenerative Medizin, Robotik und Hybrid-Projekte auf dem Weg zum Markt unterstützt.