Biodiversität – schön und dringend gebraucht
Eine hohe biologische Vielfalt ist nicht nur schön, sie ist auch wichtig. ETH-Wissenschaftler erforschen die Grundlagen dazu, wie sich die Vielfalt von Arten und Genen entwickelt und wozu wir Menschen diese Vielfalt dringend brauchen.
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Im Frühling leuchtet der gelbe Löwenzahn aus sattgrünen Wiesen. Der Himmel darüber ist wolkenlos blau – was für eine Farbkombination, was für ein schöner Anblick, mag sich manch einer denken. Doch ein Biodiversitätsforscher wie Alex Widmer, Professor für Ökologische Pflanzengenetik am Departement Umweltsystemwissenschaften, sieht das anders. «Mein Wissen über ökologische Zusammenhänge ist mir im Weg, um eine solche monotone Wiese schön zu finden», sagt er. Als schön empfindet er artenreiche Trocken- oder Magerwiesen, die wie er sagt «kaum dem Postkartenidyll entsprechen». Die Schönheit solcher Wiesen sei viel weniger offensichtlich. Ungedüngte, wenig bewirtschaftete Mager- und Trockenwiesen sind äusserst vielfältig. Das ist nicht nur schön, sondern auch wichtig.
«Die Artenvielfalt macht Ökosysteme resilient», betont Widmer, «und die Grundlage der Resilienz ist die genetische Vielfalt.» Genetische Vielfalt sei die Voraussetzung dafür, dass sich Arten oder Organismen an bestehende oder sich ändernde Umweltbedingungen anpassen können. Und die Anpassungsfähigkeit wiederum ist die Grundlage für die Artbildung.
Auch für Loïc Pellissier, Professor für Ökosysteme und Landschaftsevolution am Department Umweltsystemwissenschaften, offenbart sich die Schönheit von Biodiversität anders als nur durch das, was das Auge wahrnimmt. Er sehe die Schönheit der Biodiversität darin, wie sich Arten gemeinsam entwickeln und zusammen funktionieren. «Wer sich mit Artenvielfalt beschäftigt, erkennt, wie sich alle Organismen dahingehend entwickelt haben, miteinander wechselzuwirken. Ich betrachte Ökosysteme als riesige Puzzles, bei denen alle Teile nahezu perfekt zueinander passen.» In seiner Forschung befasst er sich damit, wie Artenvielfalt entsteht und sich entwickelt. Weil dies Zeiträume von Millionen von Jahren umfasst, arbeitet Pellissier mit Computermodellen, mit denen er sowohl geologische Prozesse, als auch die Vorgänge simuliert, die zur Bildung neuer Arten führen.
Genetische Vielfalt
Der Biodiversitätsforscher führt auch zahlreiche Feldprojekte durch, um dem Geheimnis der Artenvielfalt auf die Spur zu kommen. Dafür nutzt er einen neuen Ansatz, der sich in der Ökologie durchzusetzen beginnt, und zwar das Aufspüren von Arten oder Organismen mithilfe ihrer DNA, die sie in der Umwelt hinterlassen – Umwelt-DNA oder kurz eDNA (environmental DNA) genannt. Um an das Erbgut von verschiedensten Organismen heranzukommen, reicht es den Forschenden, nur noch Wasser- oder Bodenproben zu extrahieren und zu analysieren. Die darin vorhandene DNA ordnen sie dann den entsprechenden Organismen zu – sofern für diese eine Referenz bekannt oder vorhanden ist. Auf diese Weise können die Forschenden relativ rasch herausfinden, ob eine Art in einem Ökosystem vorkommt oder nicht. «Wir erhalten durch eDNA einen neuen Sinneseindruck von der Vielfalt eines Ökosystems», sagt er.
Vor Kurzem war Pellissier Mitautor einer Studie über die weltweite Vielfalt von Riff-Fischen. In verschiedenen tropischen Korallenriffen nahmen Forschende über 200 Meerwasserproben und fischten wortwörtlich nach der darin vorhandenen DNA von Fischen. Mithilfe der eDNA konnten die Forschenden in weniger als zwei Jahren tatsächlich mehr Fischarten und -familien nachweisen als Spezialisten auf Tauchgängen während mehr als 13 Jahren.
«Die genetische Vielfalt ist der am stärksten vernachlässigte Bereich der Biodiversität.»Alex Widmer
Artenvielfalt ist indessen nur ein Aspekt der biologischen Vielfalt. Weitere Ebenen der Biodiversität sind die Diversität von Lebensräumen und die genetische Vielfalt. «Doch die genetische Vielfalt ist der am stärksten vernachlässigte Bereich der Biodiversität», betont Alex Widmer. «Die genetische Vielfalt zu untersuchen und zu überwachen, ist viel aufwendiger und schwieriger, als Lebensräume oder Arten zu monitoren.» Davon zeugen auch die zahlreichen Inventare von Lebensräumen – Wälder, Feuchtgebiete, Trockenwiesen – und von Pflanzen und Tieren der Schweiz. «Aber kein einziges Monitoring beschäftigt sich hierzulande mit der genetischen Vielfalt der Lebewesen», sagt der ETH-Professor. «Dabei ist die genetische Vielfalt als Grundlage der Artenvielfalt und der Anpassungsfähigkeit eminent wichtig.»
Widmer hat deshalb in Zusammenarbeit mit der Eidg. Forschungsanstalt WSL und mit der Unterstützung des Bundesamts für Umwelt Bafu ein Projekt angestossen, welches das Biodiversitätsmonitoring der Schweiz ergänzen und eine empfindliche Lücke schliessen soll. In einer Pilotstudie untersuchen Widmer und seine Mitarbeitenden fünf verschiedene Arten, darunter zwei Pflanzenarten, einen Schmetterling, eine Kröte und einen Vogel: die Goldammer, ein im Schweizer Kulturland verbreiteter Singvogel, von dem die Forschenden die Genome von hundert Individuen aus der ganzen Schweiz sequenziert haben.
Zusätzlich zu den lebenden Individuen untersuchen die Forschenden auch das Erbgut von Belegen aus Sammlungen. «Damit können wir herausfinden, ob Populationen von vor über hundert Jahren genetisch so vielfältig waren wie heutige oder ob genetische Vielfalt verloren ging», erklärt Widmer. Aufgrund der Biodiversitätsforschung in der Schweiz wisse man, dass die Artenvielfalt stark abgenommen habe. «Wir möchten herausfinden, ob wir das auch bei der genetischen Vielfalt sehen.» Widmers Ziel ist es, nach Abschluss der Pilotstudie ein grosses Monitoring aufziehen. Dieses soll bis zu fünfzig Arten umfassen, die in regelmässigen Abständen auf Veränderungen ihrer genetischen Vielfalt untersucht werden. Ob für dieses aufwendige und ambitionierte Vorhaben Geld gesprochen wird, ist noch offen.
Fragile und bedrohte Schönheit
Die Zeit eilt. Die biologische Vielfalt ist bedroht und nimmt rapide ab. Nur ein Biodiversitätspuzzle, das viele Teile umfasst und bei dem die Teile stark miteinander vernetzt sind, verlangsamt das Aussterben einzelner Arten. Halbiert sich dieses Netzwerk, dann sterben Arten um den Faktor 1000 schneller aus. Und nochmals tausendmal schneller geht es, wenn äussere Störungen wie der Klimawandel mit reinspielen.
«Wir sind dringend auf die Biodiversität angewiesen: Ob wir etwas zu essen auf dem Tisch haben, hängt genauso von der biologischen Vielfalt ab wie unser psychisches Wohlbefinden», betont Widmer. Vielfältige Ökosysteme sind viel stabiler und besser für die Zukunft gerüstet als monotone, artenarme Lebensräume. «Biologische Vielfalt ist wie antike Kunst: Sie ist nicht ersetzbar. Verliert die Erde ihren biologischen Reichtum, verliert sie ihre Magie», pflichtet Pellissier bei.
Zu den Personen
Loïc Pellissier ist Professor für Ökosysteme und Landschaftsevolution am Department Umweltsystemwissenschaften. Sein Forschungsschwerpunkt ist die Landschaftsdynamik sowie ihre Korrelation mit der Biodiversität.
Alex Widmer ist Professor für Ökologische Pflanzengenetik am Departement Umweltsystemwissenschaften und forscht zu evolutionären Prozessen und Biodiversität.
«Globe» Schönheit und Wissenschaft
Dieser Text ist in der Ausgabe 22/02 des ETH-Magazins Globe erschienen.