Blaupause für ein besseres Verständnis der Pandemie
Seit Jahrzehnten plädieren Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sowie Expertinnen und Experten für öffentliche Gesundheit dafür, Vorbereitungen für die unvermeidbare Gefahr einer viralen Pandemie zu treffen. Infektionskrankheiten, ob nun scheinbar «ungefährlich wie die Grippe» oder tödlich wie Ebola, hätten Warnung genug sein können – COVID-19 schien die Welt jedoch völlig unvorbereitet getroffen zu haben.
Diese Woche legten drei zukunftsorientierte Forschende und Strategieexpertinnen und -experten auf dem Symposium der ETH Zürich beim Jahrestreffen 2021 der AAAS (American Association for the Advancement of Science) eine «epidemiologische Blaupause zum Verständnis pandemischer Entwicklungen» vor.
Die COVID-Detektive
Als forensische «Ermittlungsberatende» à la Sherlock Holmes unterstützen Forschende derzeit Regierungen und Gesundheitsbehörden auf der ganzen Welt. Anhand zehntausender Proben können Epidemiologinnen und Epidemiologen wie Tanja Stadler, Professorin an der ETH Zürich, nun die Ausbreitung von SARS-CoV-2 in Gebieten nachvollziehen, in denen sonst keine Kontaktverfolgung möglich ist. Anders als der berühmten Romanfigur stehen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern heute Echtzeit-Statistiktools zur Verfügung, mit denen sie den genetischen Code verschiedener Virusvarianten entschlüsseln können. «Wie beim Menschen liefert der genetische Code von Krankheitserregern eine Blaupause mit Informationen zu Entwicklung und Ursprung eines Virus», erklärt Stadler, die der Swiss National COVID Science Task Force angehört. «Damit können wir den Typus und möglichen Ursprung des Virusstammes untersuchen, der sich in einem Land ausbreitet, neue Varianten mit neuartigen Eigenschaften identifizieren und ihre Reproduktionsraten, also die durchschnittliche Zahl der Sekundärinfektionen durch eine infizierte Person, ermitteln».
Stadlers Team beobachtet die Ausbreitung neuer Varianten in der Schweiz und bringt die Sequenzen in einen internationalen Zusammenhang. Vor der Entdeckung der neuen Variante B.1.1.7 im Vereinigten Königreich nutzten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler die Genomdaten aus Stadlers Forschung, um eine andere Variante zu identifizieren, die im Sommer 2020 in Europa rasant um sich griff. Nach der ersten Entdeckung in einer ländlichen Region Spaniens führten einige Events mit Superspreading-Potenzial dazu, dass sich diese Variante rasch ausbreitete. Anders als B.1.1.7 ist die spanische Virusvariante anscheinend nicht ansteckender als der ursprüngliche Virusstamm. Diese Variante brach in der Sommerurlaubszeit aus und verbreitete sich wahrscheinlich über ausländische Gäste, die nach Urlaubsende in die Schweiz, das Vereinigte Königreich und andere Länder zurückkehrten.
Wie viele andere Viren mutiert auch SARS-CoV-2 alle zwei Wochen. Forschende konnten bislang noch nicht feststellen, wie schnell sich das Virus an das menschliche Immunsystem anpasst, und ob künftig jährliche Impfungen erforderlich sein werden. Schwierig wird es auch dadurch, dass Metadaten von Patientinnen und Patienten und Daten über Genomsequenzierungen nicht verknüpft sind. Dies ist eines von vielen Hindernissen, die ein umfassendes Verständnis der Pandemieentwicklung erschweren. Liessen sich diese Informationen unter Schutz der Patientendaten verbinden, könnten Forschende laut Stadler wichtige Fragen zu neuen Varianten und ihren Übertragungsraten besser beantworten.
Auf den Spuren von Tier X
In den letzten 25 Jahren wurden einige der tödlichsten zoonitischen Viren durch Fledermäuse übertragen. Sie leben in ihren Kolonien dicht an dicht, können als einzige Säugetiere fliegen und sind daher oft Zwischenwirt bei der Übertragung zwischen Tieren (wie Pferden, Schweinen oder sogar Kamelen), oder sie übertragen den Virus direkt an den Menschen. Wie Professor Linfa Wang von der Duke-NUS Medical School erklärt, ist einer der besorgniserregenden Aspekte von SARS-CoV-2 die Tatsache, dass auch der Mensch das Virus auf andere Spezies übertragen kann, wie dies bei Nerzen und anderen Tieren bereits der Fall war. Tiere können dann ihrerseits mutierte Varianten zurück auf den Menschen übertragen, ein sogenanntes «Spillback».
Um künftige Viruspandemien einzudämmen, wollen Expertinnen und Experten sowie Forschende weltweit «Tier X» und damit den Ursprung von SARS-CoV-2 ausfindig machen. Während es naheliegt, die Suche im chinesischen Wuhan zu beginnen, lässt die grosse Anzahl an Fledermauskolonien in Teilen Südostasiens und Südchinas vermuten, dass ähnliche Viren bereits seit vielen Jahren unter der Bevölkerung dieser Regionen kursieren. Jüngste Erkenntnisse haben derartige Hypothesen nun bestätigt. Laut Professor Wang sind in den Fledermauskolonien Nordamerikas derzeit keine SARS-ähnlichen Viren zu finden. Angesichts eines möglichen Spillbacks spricht er sich jedoch für eine serologische Untersuchung aus. Die Beobachtung von Veränderungen in Fledermauspopulationen könnte als Frühwarnsystem für künftige Bedrohungen der öffentlichen Gesundheit genutzt werden.
Im Mai 2020, nur 70 Tage nach Wangs erster Idee, entwickelten und patentierten er und sein Team für SARS-CoV-2 den ersten Test zum Nachweis neutralisierender Antikörper, der von der U.S. Food and Drug Administration (FDA) zugelassen wurde. Der als cPass bekannte Test erfasst neutralisierende Antikörper, die möglicherweise bei der Entwicklung eines „Immunitätspasses“ helfen können. Zusammen mit der Weltgesundheitsorganisation (WHO) arbeitet Wang nun an einem globalen Überwachungsprotokoll, einer internationalen Standardmasseinheit sowie an einem Test zum Nachweis neutralisierender Antikörper. Vielleicht waren es diese heroischen Leistungen angesichts einer internationalen Pandemie, die ihm den inoffiziellen Titel «Batman von Singapur» eingebracht haben.
Auge in Auge mit existenziellen Bedrohungen
Mikroben sind weitaus älter als der Mensch und werden wahrscheinlich noch lange nach unserem Verschwinden fortbestehen. Und auch wenn es inmitten einer Pandemie nicht danach aussieht: «In der modernen Medizin haben wir den Kampf gegen Mikroben – weitgehend – gewonnen», sagt Dr. Michael Osterholm, Leiter des Forschungs- und Strategiezentrums für Infektionskrankheiten an der Hochschule Minnesota und Mitglied im COVID-19 Advisory Board des Übergangsteams von US-Präsident Biden. Er hat einen grossen Teil seiner Karriere damit verbracht, wie ein Schachspieler die nächste evolutionäre Entwicklung von Mikroben vorherzusehen und für das öffentliche Gesundheitswesen Strategien zur Bekämpfung noch unvorstellbarer Bedrohungen zu entwickeln.
Eine Blaupause zum Verständnis pandemischer Entwicklungen erfordere «kreative Vorstellungskraft, die Fähigkeit, Undenkbares vorherzusehen und einen überzeugenden öffentlichen Aktionsplan auszuarbeiten», sagt Osterholm. Mit Blick auf die Sterblichkeit von US-Soldaten im Ersten Weltkrieg weist er darauf hin, dass knapp sieben von acht amerikanischen Soldaten nicht im Kampf gefallen, sondern an der Spanischen Grippe von 1918 gestorben seien. Berücksichtigt man das historische Wissen über Pandemien und Ausbrüche von Krankheiten wie SARS, MERS und Ebola fragt Osterholm, warum die Welt derart von COVID-19 überrumpelt werden konnte und scheinbar ausserstande war, die Ausmasse der Folgen der Pandemie zu verstehen. Dabei sei die aktuelle Pandemie höchstwahrscheinlich «nicht einmal das ganz grosse Ding. Andere Influenzapandemien wie damals die Spanische Grippe könnten noch verheerender ausfallen als COVID-19.»
Infektionskrankheiten legen die Schwächen globaler Gesellschaften offen, von den Ernährungssystemen bis hin zu demografischen Ungleichheiten. Wie Osterholm erklärt, bräuchten wir – laut Schätzungen im Jahr 2020 – für die Ernährung der knapp acht Milliarden Menschen auf der Welt rund 23 Milliarden Hühner und 678 Millionen Schweine. Während Viren der aviären Influenza Menschen generell nicht infizieren, können sie auf Schweine übertragen werden, wenn diese in direkter Nähe zu Hühnern gehalten werden. Schweine können von Viren sowohl menschlichen als auch tierischen Ursprungs befallen werden. Dabei findet ein genetischer Austausch statt und neue Mutationen entstehen, die auf den Menschen übertragen werden und ihn möglicherweise auch töten können. Osterholm betont, dass bestimmte ethnische Gruppen und indigene Völker aus unzähligen Gründen unverhältnismässig stark betroffen sind – viele davon sind auf soziale Diskriminierung, Ungleichheit sowie Armut zurückzuführen.
Tanja Stadler, Linfa Wang und Michael Osterholm plädieren für einen international abgestimmten Massnahmenplan in der COVID-19-Pandemie. Osterholm zufolge braucht es Verständnis und Wissen, wie öffentliche Massnahmen zum Gesundheitsschutz das Alltagsleben weltweit beeinflussen, denn: «Die besten Impfungen und Massnahmen der Welt können nur dann Wirkung zeigen, wenn wir die Unterstützung und Akzeptanz der Öffentlichkeit gewinnen.»
Weitere Informationen
Informationen über den Beitrag der ETH Zürich am AAAS 2021 können Sie auf dieser Seite finden: ETH Meets You at the AAAS 2021 with "An Epidemiological Blueprint for Understanding the Dynamics of a Pandemic."
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