Ein Institut mit eigenem Charakter
Im vergangenen Sommer hat das ETH-Institut für theoretische Studien (ETH-ITS) Fahrt aufgenommen: Vier Senior Fellows und zwei Junior Fellows widmen sich als Gäste der ETH Zürich ganz der Theoriebildung.
Die Clausiusstrasse führt vom ETH-Hauptgebäude in das Quartier Oberstrass. Wer sie beschreitet, erkennt nach gut vier Minuten zur linken Hand zwei Gebäude mit rundherum roten Fassaden und weissen Kanten. 1882 gebaut, wohnten dort einst Familien der Mittel- bis Oberschicht. Heute sind sie Orte der grundlagentheoretischen Reflexion. Im grösseren der beiden Häuser ist seit Herbst 2013 das ETH-Institut für theoretische Studien (ETH-ITS) zuhause. Eingerichtet hat die ETH dieses Institut mit privaten Spenden. «Wir möchten Forschende ans ITS einladen», sagt Giovanni Felder, Mathematik-Professor und Direktor des Instituts, «die sich durch innovative Theorien in Mathematik, Informatik oder Naturwissenschaften auszeichnen. Wir geben ihnen alle Freiheit, damit sie sich ein Jahr lang der theoretischen Grundlagenforschung widmen können.»
Im ersten Jahr stand der Aufbau des ITS im Vordergrund. Im Februar kam mit dem theoretischen Physiker und Biologen Terry Hwa der erste ITS-Fellow nach Zürich. Im Sommer fand die Einweihung statt. Seither ist eine erste Generation von ITS-Fellows am Werk: vier Senior Fellows und zwei Junior Fellows. Für ETH-Präsident Ralph Eichler erfüllt sich damit ein «Traum, den ich schon lange hatte».
Die Mathematik als Sprache des Dialogs
Schmuck ist das rote Haus, schlicht und schön zugleich mit einladenden Holztreppen. Im Erdgeschoss befindet sich ein Seminarraum mit bunten Stühlen und Zimmerpflanzen. Die Räume gleichen eher klassischen Studios als modernen Labors. Das ist durchaus erwünscht: Das Ambiente soll seinen Teil dazu beitragen, dass die Fellows untereinander ins Gespräch kommen und ihre Ideen mit Forschenden der ETH austauschen.
«Das ITS soll ein Treffpunkt sein für Forschende, die über ihre Fachgrenzen hinaus einen Dialog über neue Theorien führen wollen», sagt Giovanni Felder. Weshalb der Fokus auf Theorien? Die theoretischen Teile der Naturwissenschaften und der Informatik enthalten vermehrt anspruchsvolle Mathematik. In den betroffenen Disziplinen ermöglicht diese Entwicklung einen fruchtbaren Dialog: Die theoretischen Wissenschaften und die Informatik verwenden nicht nur eine gemeinsame mathematische Sprache, sondern sie untersuchen auch gebietsübergreifende
Fragestellungen und Lösungsansätze
Das gilt etwa für den gegenwärtig sehr kreativen Forschungsbereich an der Grenze von Mathematik und Physik: «Die Mathematik entwickelt neue Methoden, die der Physik nutzen, und umgekehrt regen viele Ideen aus der Physik die mathematische Forschung an», sagt Giovanni Felder, dessen eigene Laufbahn ihn vom Doktoranden der Physik zum Professor für Mathematik geführt hat. Typische Berührungszonen sind die Wahrscheinlichkeitstheorie, die statistische Mechanik, die Quanteninformationstheorie, die Geometrie oder die Stringtheorie. Diese fasst die Elementarteilchen nicht als Punkte auf, sondern als schwingende Saiten und gilt als Kandidatin für eine vereinheitlichte Theorie des Universums, die es heute noch nicht gibt.
Physik als Quelle der Inspiration
Emily Clader untersucht, wie sich Ideen der Stringtheorie mit einer mathematischen Sprache verstehen lassen. Die Mathematikerin kam nach ihrer Promotion an der Universität Michigan als Junior Fellow zum ITS und schätzt den fachübergreifenden Austausch und die gegenseitige Anregung am ITS: «Das ITS hat enge Verbindungen zu den Departementen der ETH und zu anderen Universitäten. Für Forschende, die am Anfang ihrer Karriere stehen, ist das besonders vorteilhaft.»
Auch Dmitry Chelkak sagt, dass er reine Mathematik betreibt, «aber in hohem Masse inspiriert von der Physik». Der Russe forscht am Steklow-Institut für Mathematik und befasst sich mit Wahrscheinlichkeitstheorie und statistischer Mechanik. «Das ITS kombiniert zwei attraktive Aspekte: Zum einen ist es ein selbstständiges Institut, das sich nicht innerhalb der Departemente befindet. Zum anderen ist es voll in die ETH integriert und nur wenige Minuten vom Hauptgebäude entfernt. Diese Nähe ist wichtig für die Zusammenarbeit», sagt Chelkak. Das ITS setzt nicht auf grosse Forschungsprogramme, sondern auf kleine Diskussionsrunden. Typisch dafür sind das ITS Science Colloquium und Workshops, welche die Fellows organisieren.
Mitte Oktober haben beispielsweise rund zwanzig Forschende aus Physik und Informatik eine Woche lang leidenschaftlich über die Quantenmechanik debattiert.
Mittels Quantenmechanik lassen sich Elementarteilchen, Atome oder Moleküle beschreiben. Ihre Begriffe und deren physikalische Interpretation sind jedoch oft wenig anschaulich und werden intensiv diskutiert: «Wir diskutieren die Grundlagen der Quantenmechanik aus verschiedenen Perspektiven und Überzeugungen», sagt Gilles Brassard, Senior Fellow am ITS und Professor für Computerwissenschaft an der Université de Montréal. Er hat den Workshop organisiert und forscht seit rund 30 Jahren im Grenzgebiet der Informatik und der Quantenmechanik: «Das ITS schafft ein sehr kreatives Umfeld für interdisziplinäre Forschung.»
Klein als Institut, gross dank Vernetzung
«Der Wert solcher Workshops», sagt Renato Renner, ETH-Professor für Theoretische Physik, «liegt darin, dass wir aus verschiedenen Fachrichtungen heraus Zugang zu einem Phänomen erhalten und auf diese Weise eine Theorie weiterentwickeln können.» Er schätzt das ITS als interdisziplinäres Forschungsinstitut, das die Aktivitäten der Departemente ergänzt. Neben Gilles Brassard nimmt Charles Bennett, ein Physiker und Informatiker des IBM Forschungszentrums bei New York, an dem Workshop teil. Die beiden haben 1983 die Quantenkryptografie und 1992 das Prinzip der Quantenteleportation entdeckt – Themen, in denen auch Renner forscht, und die für die künftige schnelle und sichere Informationsübertragung eine Schlüsselrolle spielen.
ITS-Fellow ist auch der Zahlentheoretiker Henryk Iwaniec. Der gebürtige Pole forscht seit rund 30 Jahren in den USA. Zuerst am Institute for Advanced Study in Princeton, heute als New Jersey State Professor an der Rutgers Universität. «Das ITS ist ein Institut mit einem ganz eigenen Charakter. Man kann es fast nicht mit anderen Instituten vergleichen, die aus ständigen Fakultätsmitgliedern bestehen. Es ist ein attraktiver Ort für Seniors und für Juniors, die Zeit haben möchten, um an ihren geliebten Fragestellungen zu arbeiten», sagt er, «das ITS ist neu und vergleichsweise klein, aber es ist gross in dem Sinn, dass es sehr eng mit der ETH verbunden ist, mehr jedenfalls als andere Institute dieser Art mit ihren Universitäten.»
Dieser Artikel wurde zuerst in «life - Das Magazin für die ETH-Community» veröffentlicht.
Menschen am ETH-ITS