Wie wir Übeltäter zum Kooperieren bringen
Verletzt einer unserer Mitmenschen eine Norm, wird er oft von den anderen bestraft. ETH-Soziologe Andreas Diekmann zeigt in einem spieltheoretischen Experiment, dass ein Übeltäter am ehesten sanktioniert wird, wenn die Geschädigten ungleich stark sind. Unter Gleichen kommt ein Normbrecher hingegen eher davon.
An einem See sind einige Fabriken angesiedelt. Heimlich entsorgt eine der Firmen in der Nähe Giftmüll, der ins Gewässer fliesst und somit den anderen Schaden zufügt. Die geschädigten Betriebe können nun das umweltkriminelle Unternehmen verklagen, was aber mit Kosten verbunden ist. Doch welche der Firmen wird dies an die Hand nehmen? Fragen wie dieser ist Andreas Diekmann, Professor für Soziologie an der ETH Zürich gemeinsam mit Wojtek Przepiorka von der Universität Utrecht in einer Studie über soziale Kooperation nachgegangen.
«Die Chance, dass jemand zum Wohle aller eingreift, ist am grössten, wenn die Gruppe der Betroffenen heterogen und damit einer davon klar der ‹Stärkste› ist», fasst Diekmann die Ergebnisse zusammen. Gemessen werde die Stärke eines Akteurs am Aufwand, den dieser auf sich nehmen muss, um einen Regelverstoss zu sanktionieren und am Gewinn, der erzielt wird, wenn die soziale Kooperation wiederhergestellt ist: Den Stärksten kostet ein Eingreifen im Vergleich mit den anderen am wenigsten oder die Entschädigung fällt für ihn am höchsten aus. Unter dem Strich bleibt jedoch für den Starken, der sich für alle einsetzt, stets am wenigsten übrig – er hat ja für die Sanktion bezahlt und die anderen der Gruppe profitieren kostenlos als Trittbrettfahrer. Paradoxerweise wird in einer einmaligen Situation der Starke durch die Schwachen ausgebeutet.
Jeder denkt, der andere macht‘s
Bemerkenswert ist, dass dieser starke Vertreter einer heterogenen Gruppe die Sanktion meist auch wirklich übernimmt: Wie spieltheoretische Experimente der Forschenden zeigen, bestrafen die starken Personen in asymmetrischen Gruppen einen Abtrünnigen in vier von fünf Fällen und holen damit für die Geschädigten einen Verlust zurück.
Zurückhaltender verhalten sich Gruppen, in der alle Mitglieder den gleich hohen Preis für eine Bestrafung zahlen müssen – also gleich stark sind. In einer solchen Konstellation übernimmt nur in rund zwei von fünf Fällen jemand die Sanktion. Der Grund dafür ist gemäss dem ETH-Soziologen die «Diffusion der Verantwortung»: Ohne Kommunikation ist es kaum möglich, ein Eingreifen zu koordinieren, wenn alle vor gleichen, symmetrischen Voraussetzungen stehen – jeder denkt, der andere tut‘s.
Das Spiel mit dem öffentlichen Gut
Wie die Höhe der Sanktionskosten und die Asymmetrie einer Gruppe zusammenspielen, untersuchten die beiden Wissenschaftler in einem abgewandelten Öffentliche-Güter-Spiel. Die Spielerinnen und Spieler konnten dabei durch Kooperation oder Diebstahl ihr Kapital erhöhen. In einer Vierergruppe von stets anonymen Spielern mit gleichem Kapital erhielt eine Person die Möglichkeit, den anderen die Hälfte des Geldes zu stehlen. Tat sie dies, konnten die anderen drei Spieler einen bestimmten Betrag aufwenden, um das gestohlene Geld zurückzuholen und – in einem weiteren Schritt – den Dieb zu bestrafen. Der Einsatz eines einzigen Spielers reichte aus, um das Geld für alle Bestohlenen zurückzubringen.
Das Besondere am Spiel: Die Höhe dieses Einsatzes variierte – mal lag der Einsatz unter dem gestohlenen Betrag, mal darüber, mal war der Einsatz für alle gleich, mal asymmetrisch und damit für einen starken Spieler weniger hoch. Im Wissen um die Höhe des Einsatzes der anderen mussten sich nun die einzelnen Spieler entscheiden, ob sie mit ihrem Einsatz den Dieb sanktionieren und das Geld für die Geschädigten zurückholen oder nicht.
Koordination um ein starkes Zentrum
Die Resultate sind eindeutig: Am häufigsten wird ein Dieb bestraft, wenn für alle Bestohlenen eine Entschädigung winkt und der Starke einer Gruppe (der am wenigsten dafür zahlen muss) die Bestrafung angeht. Eine heterogene Gruppe mit einem starken Mitspieler hat zudem eine abschreckende Wirkung – potenzielle Normbrecher verstossen seltener gegen die Regeln.
«Unterschiedlich hohe Sanktionskosten oder Gewinne halten die soziale Kooperation wirkungsvoll aufrecht», stellt Andreas Diekmann fest – aber noch entscheidender ist die asymmetrische Konstellation einer Gruppe: In zwei Drittel der Fälle übernimmt nämlich der Starke in ihrer Mitte eine Mission überraschenderweise sogar dann, wenn er selbst dabei rein gar nichts gewinnt oder gar einen Verlust erleidet. Offenbar bringt ihn seine zentrale Rolle dazu, selbstlos für die anderen in die Bresche zu springen. «Dieser Mechanismus erklärt möglicherweise auch, wie sich anarchische Gruppen hin zu Gesellschaften mit zentraler Autorität entwickelt haben, in denen die Sanktionsgewalt auf spezialisierte Akteure wie Polizei und Justizbehörden übertragen wird», so Diekmann.
Literaturhinweis
Diekmann A, Przepiorka W: Punitive preferences, monetary incentives and tacit coordination in the punishment of defectors promote cooperation in humans. Scientific Reports, 19. Mai 2015. doi: externe Seite 10.1038/srep10321