Wenn aus Fehlern Fährten werden
Wissenschaftsphilosophie für die Medikamentenforschung: In einem Kurs lernen Pharmazeutik-Studierende, wie sich Theorie, Methode und Experiment auf ein wissenschaftliches Ergebnis auswirken und wie sie die Aussagekraft der Resultate beurteilen können.
Was passiert im Hirn, wenn Menschen lügen? Es ist Freitagnachmittag im «Fünffinger Dock» auf dem Campus Hönggerberg. 18 Studierende der Pharmazeutischen Wissenschaften diskutieren über die Aussagekraft und die Grenzen von wissenschaftlichen Begriffen und Methoden. Drei von ihnen, Sara Dylgieri, Severin Lustenberger und Frederik Peißert, stellen ein Fallbeispiel vor. Darin haben Forschende untersucht, welche Hirnregionen beim Lügen aktiviert werden. Sie stellten fest, dass stirnseitige und seitliche Hirnregionen aktiv sind, wenn jemand lügt, und dass andere Hirnregionen aktiv sind, wenn man sich eine Lüge ausdenkt als wenn man sie äussert.
Die Diskussion der Studierenden freilich kreist weniger um das Ergebnis als vielmehr darum, wie es zustande kam. Das Vorgehen sei typisch für wissenschaftliche Forschung, resümieren sie. Die Forschenden arbeiteten mit theoretischen Annahmen, sogenannten Hypothesen, die sie experimentell untersuchten. Sie verglichen ihr Ergebnis mit den bestehenden Erkenntnissen aus der Forschungsliteratur und schlössen daraus auf die derzeit bestmögliche Erklärung.
Intensiv diskutieren die Studierenden die Annahmen, die der funktionellen Magnetresonanztomographie (fMRI) zugrunde liegen. Dieses bildgebende Verfahren wird eingesetzt, um aktivierte Hirnregionen mit hoher räumlicher Auflösung in einem digitalen Bild farbig darzustellen. Genau genommen misst die fMRI allerdings den Sauerstoff und den Blutfluss in den Gefässen. Der Schluss auf die Hirnaktivitäten erfolgt somit indirekt.
Aus Bildern die richtigen Schlüsse zu ziehen, setzt methodisches Wissen voraus, was genau gemessen wird und wie ein Bild entsteht. Bildgebung umfasst nämlich mehrere, nicht immer völlig durchsichtige und eindeutige «Übersetzungsschritte»: biologische Eigenschaften werden in physikalische Messgrössen übertragen, mathematisch in räumliche Koordinaten umgerechnet und zu einem digitalen Bild zusammengesetzt.
Auswählen: Keine Methode sagt alles
Das Know-how, wie man die Annahmen, Begründungen und Folgerungen eines wissenschaftlichen Ansatzes einschätzt, haben sich die Pharmazeutik-Studierenden im Kurs «Wissenschaftliche Begriffe und Methoden» angeeignet. Im Verlauf einer Woche erfahren sie, wie sich die Wahl einer bestimmten Theorie und Methode auf eine wissenschaftliche Arbeit auswirkt und worauf sie achten müssen, wenn sie die grundlegenden Annahmen und Begriffe ihrer eigenen Projektarbeit überprüfen.
«Wer eine offene Forschungsfrage untersucht, sollte begründen können, welche Theorien, Herangehensweisen und Experimente sie oder er verwendet. Um die geeignetsten auszuwählen, muss man ihre Stärken und Grenzen kennen», sagt Vivianne Otto, Privatdozentin am ETH-Institut für Pharmazeutische Wissenschaften (IPW). Entworfen hat sie den Kurs zusammen mit Elvan Kut, ebenfalls Dozentin am IPW.
Der Kurs ist Teil des komplett überarbeiteten und seit Herbst 2017 erstmals angebotenen Masterstudiengangs für Pharmazeutische Wissenschaften. Dieser befähigt zum wissenschaftlichen Arbeiten in der Grundlagenforschung und in der Industrie (im Unterschied zum «Master Pharmazie», der auf die Arbeit in Apotheken vorbereitet).
Ausser den chemischen, physikalischen und biologischen Grundlagen, die es braucht, um neue Medikamente zu erforschen und zu entwickeln, vermittelt das Studium auch reflexive und praktische Fähigkeiten wie Wissenschaftsphilosophie, Ethik, wissenschaftliches Schreiben, Biostatistik und Projektmanagement.
Ergebnisse zur Diskussion stellen
Zur Wissenschaft gehört auch, dass die Forschenden die Gültigkeit und Schlüssigkeit ihrer Erkenntnisse kritisch hinterfragen, und dass sie ihre Ergebnisse zur Diskussion stellen. Entsprechend ist der Kurs Teil der «Critical Thinking»-Initiative der ETH Zürich.
«Die pharmazeutische Forschung verwendet und kombiniert heute hochentwickelte Techniken und rechnerische Methoden. Das erfordert viel Wissen und noch mehr Reflexion, um die brauchbarsten Ansätze auszuwählen und zu beurteilen, was die Resultate jeweils aussagen», sagt Kut. «Deshalb vermitteln wir die Wissenschaftsphilosophie direkt im Zusammenhang mit aktuellen, naturwissenschaftlichen Methoden», erklärt Norman Sieroka, Privatdozent für Philosophie und Geschäftsführer des Turing Centre Zürich, und der dritte Dozent im Bund. «Dazu haben wir an jedem Kurs-Tag einen Experten eingeladen, der den Studierenden Hintergründe, Möglichkeiten und Grenzen topaktueller Forschungsmethoden erläutert. »
Experimente: Theorien testen, Neuland erkunden
Eine Schlüsselrolle auf dem Weg zu anerkannten wissenschaftlichen Erkenntnissen spielen Theorie und Experiment. «Oft setzt man Experimente ein, um mehr über Theorien zu erfahren», sagt Sieroka. Die Forschenden treffen im Rahmen einer Theorie bestimmte Annahmen, eben Hypothesen, und formulieren Wenn-Dann-Beziehungen. Diese untersuchen sie in Experimenten, wobei die Messdaten die theoretischen Annahmen stützen oder schwächen.
«Neben der Untersuchung von Theorien eignen sich Experimente auch, um unbekannte Bereiche und neue Phänomene zu untersuchen», legt Sieroka weiter dar. Mit solchen «explorativen» Experimenten lassen sich Regelmässigkeiten finden, Wenn-Dann-Beziehungen herleiten und neue Begriffe festlegen. Zudem gibt es Experimente ohne vorausgehende Theorie: zum Beispiel, wenn man intelligente Algorithmen einsetzt, um Regelmässigkeiten aus grossen Datenmengen herauszufiltern.
Die Studierenden nehmen die Unterscheidung interessiert und angetan auf und übertragen sie auf die pharmazeutische Forschung: In der computergestützten Medikamentenforschung, sagt einer, spiele das Testen von Theorien eine wichtige Rolle. Am Computer würden die grundlegenden Annahmen simuliert und dann im Experiment überprüft. In Wirklichkeit verhielten sich die Moleküle nämlich nicht immer so wie in der Computersimulation.
Auf unerwartete Ereignisse bewusst reagieren zu können, sei ein Lernziel, sagt Otto: «Nicht jedes seltsame Ergebnis muss ein Messfehler sein. Manchmal führt es vielmehr dazu, dass man eine theoretische Annahme ändern oder fallen lassen muss. »
Aus dem Kurs «Wissenschaftliche Begriffe und Methoden»