«Nur wer die Welt kennt, kann ihre Probleme lösen»
Für den Aufbau des weltweiten Beziehungsnetzes der ETH war Gerhard Schmitt, Professor für Informationsarchitektur, prägend: als Gründungsdirektor des ETH-Hubs in Singapur, und als erster Delegierter der ETH für internationale Beziehungen. Ein Rückblick.
ETH-News: Herr Schmitt, zur DNA der ETH Zürich gehört Weltoffenheit. Die Hochschule stellte vor zehn Jahren ihr internationales Engagement auf eine offizielle Basis, mit Ihnen als ersten Leiter für internationale Beziehungen. Wozu brauchte es diesen Schritt?
Gerhard Schmitt: Die ETH ist seit ihrer Gründung sehr international. Als sich um das Jahr 2000 die Globalisierung manifestierte, wurde diese in der Gesellschaft eher negativ eingeschätzt. Denken Sie an die Dotcom-Ereignisse oder später an die globale Finanzkrise nach 2007. In der Wissenschaft und wie Sie sagen besonders an der ETH wurde Globalisierung jedoch immer schon als Chance verstanden. Der produktive Austausch von ETH-Forschenden mit Kolleginnen und Kollegen in der ganzen Welt ist schon lange selbstverständlich. Aber wir realisierten damals, dass es mehr Wissen braucht über die Institutionen, die mit der ETH kooperieren wollen. Um dieses Netzwerk auf eine solidere Basis zu stellen und auch vor möglichen Gegenbewegungen zu schützen, schuf die ETH einen Bereich, um internationale Kooperationen zu unterstützen. Ein weiteres Signal für die Globalisierung der Hochschulwelt waren die internationalen Hochschul-Rankings. Diese fassten in den Nullerjahren ausserhalb der USA Fuss und gewannen rasch an Bedeutung.
Was bringt das globale Engagement der ETH konkret?
Ausgangspunkt ist immer der Auftrag der ETH: Auszubilden, zu forschen und Innovation umzusetzen. Das können wir in der notwendigen Qualität nicht mehr nur aus Schweizer Perspektive heraus tun. Wir wollen die besten Studierenden, Doktorierenden und Dozierenden an die ETH bringen. Dazu müssen wir weltweit ein funktionierendes Netzwerk aktivieren können. Internationalisierung ermöglicht es, Forschungslösungen für Probleme zu finden, die am einen Ort aus klimatischen oder Entwicklungsgründen vielleicht früher oder akzentuierter auftreten als ein einem anderen, aus denen aber ein robuster, allgemein gültiger Ansatz entstehen kann. Für die Lehre gilt dies genauso.
Können Sie ein Beispiel nennen?
Modellhaft für die internationale Lehre sind heute Massive Open Online Courses (MOOCs). Mit der Kurs-Serie «Future Cities» haben wir über vier Jahre eine Lehr- und Citizen Science Community in 170 Ländern mit mehr als 110'000 Registrierungen aufbauen können. Damit vermitteln wir Grundwissen interaktiv – etwa mit der an der ETH entwickelten Planungs- und Modellierungs-Software «qua-kit». Qua-kit findet inzwischen vom konkreten Forschungsprojekt in der Innerschweiz bis zur Stadtentwicklung von Singapur Anwendungen und liefert selbst Forschungsdaten. Das zeigt: Die internationalisierte Forschung und Lehre ist nichts Abstraktes. Sie muss präzise auf die Probleme antworten, mit denen Menschen in den unterschiedlichen Kontexten der Welt konfrontiert sind. Nur wer die Welt kennt, kann auch etwas zu den Lösungen ihrer Probleme beitragen.
Sie haben während neun Jahren die globalen Anliegen der ETH vertreten. Wie packten Sie diese Herausforderung organisatorisch an?
Natürlich primär mit dem Aufbau von ETH Global – ein super Team! Und mit einer technischen Entwicklung. Es klingt unspektakulär, war für uns aber eine zentrale Voraussetzung: die Schaffung der International Knowledge Base der ETH, zu der alle ETH Angehörigen Zugang haben. Lagen die Informationen davor nur punktuell vor, so hatten wir nun zu einer Transparenz gefunden, die auf systematischer Datenerhebung über die ganze ETH hinweg beruhte. Die IKB ist heute mit über 15'000 jährlich durch das Reporting der Annual Academic Achievements erneuerten Einträgen eine unverzichtbare, konstant wachsende Orientierungsquelle – die Informationsbasis für den Austausch der ETH mit der Welt. Mein Traum ist, sie in Kombination mit künstlicher Intelligenz und Daten im Internet noch wesentlich mehr für die entscheidenden Prozesse der ETH zu nutzen.
Mit dem SEC setzt die ETH einen klaren internationalen Schwerpunkt in Asien. Wie stand und steht es mit dem Engagement und dem Wahrnehmen von Chancen auf anderen Kontinenten?
Ja, Asien mit seiner enormen Entwicklungsdynamik war von Anfang an eines unserer zentralen Interessen. ETH-Forschende haben aber auch auf anderen Kontinenten spannende Projekte initiiert und geleitet, etwa zur nachhaltigen Entwicklung in Äthiopien. Die Arbeit von Professor Franz Oswald, Dirk Hebel und Philippe Block in Addis Ababa und im Landesinnern war und ist vorbildlich. Wenn ich mir etwas für das internationale Engagement der ETH wünsche könnte, dann, dass Afrika und sein grosses Potenzial noch mehr ins Zentrum der wissenschaftlichen Aufmerksamkeit rücken.
In den kommenden Jahren werden Sie wieder hauptsächlich in Singapur tätig sein. Ist das Zusammenspannen von mehreren Universitäten in einem solchen kreativen Brennpunkt ein Modell für die Zukunft?
Ja, davon bin ich überzeugt. Wenn komplexe, übergreifende Fragen wie aktuell «Cooling Singapore» zu lösen sind, ist das nur durch massive Vernetzung von Teams mehrerer Hochschulen möglich. Dabei geht es weniger um Quantität als um die Nutzung möglichst diverser wissenschaftlicher Ansätze, um einem solchen Problemfeld gerecht zu werden – und es gleich an Ort und Stelle zu testen. Übrigens hat Singapur mit dem Campus CREATE, auf dem es mit anderen renommierten Hochschulen der Welt zusammenarbeitet, eine unserer ganz frühen Ideen aufgenommen und verwirklicht. Heute arbeiten hier rund 1'000 Forschende aus 40 Ländern, davon 200 im Singapore-ETH Centre der ETH Zürich.
Singapur liegt 10'000 Kilometern südöstlich von Zürich. Wo sehen Sie aus dieser Distanz die Chancen der ETH, wenn sie sich international positioniert?
Positionierung in Asien heisst Ranking. SEC und besonders das Future Cities Laboratory sind in Asien extrem bekannt und geben dem Ranking ein menschliches Gesicht. Die ETH hat in ihren ersten 150 Jahren für die Schweiz neues Wissen und neue Technologien geschaffen. Immer waren dabei Unabhängigkeit und hohe ethische Standards zentral. Diese Werte werden in der internationalen Hochschullandschaft immer wichtiger. Die ETH könnte diese Rolle künftig auch weltweit spielen. Dabei müssen wir uns von der westlichen Haltung, scheinbar weniger entwickelten Regionen der Welt mit unseren Lösungen unter die Arme zu greifen, verabschieden. Das funktioniert nicht, wie viele Beispiele zeigen. Wissen und Erfahrung fliessen mittlerweile in alle Richtungen. Umgekehrt sollten die unsichtbaren Schätze und die einzigartige Geschichte der ETH – etwa die graphischen und Modell-Bestände unserer Bibliotheken, digital vermehrt in der ganzen Welt erfahrbar werden.
Zum Schluss: Wie leicht fällt es Ihnen als einem ETH-Professor, der die Internationalität verkörpert, so viel unterwegs zu sein?
Ich kann mit dem Reisen zwischen den Kontinenten gut umgehen, herausfordernd ist es für das persönliche Umfeld der Familie. Jedes durch die Flüge freigesetzte Kilo CO2 versuche ich durch persönliche Investition in erneuerbare Energien zu kompensieren. Andererseits habe ich so früh wie möglich versucht, alle technischen Möglichkeiten auszuschöpfen, um das Reisen zu minimieren. So ersetze ich seit 1993, als ich als Gastprofessor jede Woche zwischen Harvard und ETH pendelte, inzwischen mehr als 80 Prozent der früher notwendigen Reisen durch Telepräsenz. Das Internet und nun die MOOCs haben den internationalen Austausch enorm verändert und intensiviert.
Vierstufig zum Global Player
Gerhard Schmitt hat den internationalen Aufbruch der ETH Zürich viele Jahre lang geprägt. Sein Wirken lässt sich in vier auf einander aufbauenden Stufen zusammenfassen:
Stufe 1, 2000: Das Projekt «ETH World» verbindet die physische mit der virtuellen Welt. Es schlägt vor, die ETH Zürich als Global Hub zu positionieren. Im Zuge von «ETH World» wird an der ETH u.a. ein erstes Wireless LAN eingerichtet und das Projekt Neptun gestartet.
Stufe 2, 2006: Aufgrund wichtiger wissenschaftlicher Kontakte zu Singapur besuchen Spitzenpolitiker und Vertreter der Wissenschaft aus Singapur Science City, den ETH Campus Hönggerberg. Er dient als Modell für den CREATE Campus.
Stufe 3, 2008: Die ETH gründet die International Institutional Affairs (IIA) mit Gerhard Schmitt als Leiter.
Stufe 4, 2012: Gründung ETH Global: Nord-Süd-Zentrum der ETH & IIA werden gebündelt. Gerhard Schmitt wird erster Delegierter ETH Global. Einführung der IKB und diverser Formate und Plattformen wie «ETH meets…» und von «ETH Studios», etwa in New York.