Tsunami-Gefahr erkennen
Forscherinnen und Forscher der ETH Zürich und der Universität Bern untersuchen bei Schweizer Seen, welche Gefährdung von Tsunamis ausgehen können, was sie auslöst und wie oft sie in der Vergangenheit aufgetreten sind.
Über 400 Jahre ist es her, seit ein Tsunami die Uferzonen um den Vierwaldstättersee und die Stadt Luzern überschwemmte. Der Flutwelle vorausgegangen war ein Erdbeben der Magnitude 5,9, das mehrere Unterwasserhangrutsche sowie einen Bergsturz am Bürgerstock verursachte. Diese Ereignisse wiederum erzeugten eine Schockwelle, die sich über den ganzen See ausbreitete. Geschätzte vier Meter hoch war die Welle, und bei Ennetbürgen strömte sie «1000 Schritte oder drei Büchsenschüsse» weit ins Hinterland, wie historischen Quellen zu entnehmen ist.
Heute ist die Ebene und das Ufer bei Ennetbürgen fest in Menschhand. Es ist verstellt mit Bauten, einem Yachthafen, einem Campingplatz, einem Wassersportzentrum; im Hinterland dehnt sich intensiv genutztes Wiesland aus. Gebannt ist die Gefahr von Tsusnamis im Vierwaldstätter See und anderen Schweizer Seen indessen nicht (und der von 1601 war auch nicht der einzige).
Tsunami-Gefährdung erforschen
Mit einem grossangelegten Forschungsprojekt wollen deshalb Forscherinnen und Forscher der ETH Zürich, der Universität Bern und des Zentrums für Marine Umweltwissenschaften Bremen erforschen, welche Gefahren von See-Tsunamis ausgehen, wie häufig sie bislang auftraten, was deren Auslöser sind und wie sie sich auswirken.
Kernstück des Projekts sind seismische Messungen im Vierwaldstättersee, an verschiedenen Orten setzen die Forschenden spezielle Unterwasser-Seismometer ab, um den Seeboden seismisch und geotechnisch zu vermessen.
Weiter untersuchen die Wissenschaftler Rutschungen von Flussdeltas – das Abrutschen von Teilen des Muotha-Deltas führte 1687 im Vierwaldstättersee zu einer Flutwelle. Mithilfe von Bohrkernen aus dem Uferbereich aber auch vom Seeboden suchen die Wissenschaftler nach von Tsunamis verursachten Ablagerungen. Darüber hinaus simulieren sie mit Computermodellen, wie sich Flutwellen über den See ausbreiten könnten.
Umfassende Untersuchungen von Sedimenten
Für das erwähnte Kernstück des Projekts verantwortlich ist ETH-Professor Donat Fäh. Er ist Leiter des Bereichs Erdbebengefährdung und Risikoanalyse beim Schweizerischen Erdbebendienst. Fäh möchte im Detail den inneren Aufbau, das Volumen und die Eigenschaften von Seesedimenten bestimmen. Auch wollen die Forscher verstehen lernen, welche Prozesse in den Sedimenten ablaufen und wie stabil diese sind. Sie möchten ein geophysikalisches und geotechnisches 3D-Modell entwickeln, um etwa die Ausbreitung von seismischen Wellen oder Verformungen, wie sie aufgrund von Erdbeben entstehen, zu erforschen. Und schliesslich wollen sie am Computer auch Erdbebenszenarien simulieren.
Ein weiteres Ziel von Fäh und seinen Mitarbeitenden ist zudem, die Beobachtungsdaten zu verbessern, insbesondere durch eine Erneuerung und den Ausbau von Erdbeben-Beobachtungsstationen. Bis im Jahr 2020 sollen 70 zusätzliche Stationen installiert werden. Mit den Beobachtungsdaten wollen die Forschenden die seismische Gefährdung besser analysieren können. Dies im Rahmen eines übergeordneten grossen Schweizerischen Forschungsprogramms, mit dem aufgezeigt werden soll, wie sich der lokale Untergrund auf die Erdbebengefährdung und auf durch Erdbeben hervorgerufene Phänomene wie Bodenverflüssigungen oder Bergstürze auswirkt.
Klassische Naturgefahrenstudie
«Dieses Projekt ist eine klassische Naturgefahrenstudie für die Schweiz», sagt Flavio Anselmetti, Geologieprofessor der Uni Bern, der zusammen mit Donat Fäh das Tsunami-Projekt leitet. Ausserdem seien Seen das perfekte Modell für Ozeane und die Erkenntnisse, die sie sich aus diesem Projekt erhofften, seien übertragbar auf die Verhältnisse im Meer.
Das Tsunami-Projekt läuft seit einem Jahr, drei weitere sind geplant. Finanziert – zwei Millionen betragen die Kosten - wird es vom Schweizerischen Nationalfonds als disziplinen- und hochschulübergreifendes Sinergia-Projekt, der ETH Zürich und dem Bundesamt für Umwelt.
Interview mit Donat Fäh
Tsunamis in Schweizer Seen zu erforschen, könnte Laien etwas abwegig oder exotisch vorkommen, warum wird ein solches Projekt durchgeführt?
Donat Fäh: Tsunamis in Seen sind zwar seltene Ereignisse, sie verursachen aber unter Umständen grosse Schäden. Dies zeigt die Geschichte der Tsunamis in Schweizer Seen. Somit sollten sie, wie alle anderen Naturgefahren auch, untersucht und quantifiziert werden. Daraus können Grundlagen für die Vorsorge abgeleitet werden.
Wie gross ist die Wahrscheinlichkeit, dass in den kommenden 100 Jahren ein Tsunami in einem Schweizer See auftritt?
Unser diesbezügliches Wissen ist heute noch unvollständig und wird in einem Teilprojekt des SNF Sinergia-Projekts für den Vierwaldstättersee bearbeitet. Wesentlich ist zudem nicht nur, wie häufig Tsunamis auftreten, sondern auch ihre Wellenhöhe und deren geografische Verteilung am Seeufer.
Welche Schweizer Seen sind am stärksten gefährdet?
Dazu müssten wir eine komplette Übersicht über die Volumen und den inneren Aufbau der Sedimentablagerungen aller Schweizer Seen haben. Auch dies ist heute nur teilweise bekannt. Im Arbeitspaket «Response» wird diese Fragestellung für den Vierwaldstättersee bearbeitet, um auch maximal mögliche Tsunamis und deren Auswirkungen abschätzen zu können.
Woran sind Sie und der Schweizerische Erdbebendienst am meisten interessiert?
Der Schweizerische Erdbebendienst hat einen Forschungsschwerpunkt im Bereich der erdbeben-induzierten Phänomene. Dies sind neben Tsunamis, erdbebeninduzierte Massenbewegungen wie beispielsweise Steinschläge oder Hangrutschungen, Bodenverflüssigung und grossräumige Setzungen. Eine umfassende Erdbebenrisikoanalyse berücksichtigt nicht nur die direkten Einwirkungen von seismischen Wellen auf Gebäude und Infrastrukturen, sondern auch die Auswirkungen induzierter Phänomene. Diese können in den Alpen sehr grosse Ausmasse annehmen.
Wem nützen die Erkenntnisse?
Im Rahmen des See-Tsunami-Projekts schaffen wir Grundlagen, um Massnahmen für die Erdbebenvorsorge abzuleiten, die der Allgemeinheit zugutekommen.