Was die Mathematik vereinigt
Ihre Vielfalt bereichert die Mathematik. Das macht es reizvoll, nach einer Vereinheitlichung zu fragen, die verschiedene mathematische Theorien und Methoden miteinander verbindet. Zur Einheit und zur Breite seines Fachs spricht der Harvard-Mathematiker Barry Mazur am 11. September an den Paul-Bernays-Ehrenvorlesungen.
Ein Hain. Links und rechts Bambusrohre. Schön parallel zueinander aufgereiht. In der Ferne laufen sie aufeinander zu und scheinen einem gemeinsamen Punkt zuzustreben. Berühren sie sich irgendwo?
Dieses Bild hat der Harvard-Mathematiker Barry Mazur als Motiv der Paul-Bernays-Vorlesungen ausgewählt, die er am 11. und 12. September 2018 an der ETH Zürich halten wird. «Wenn man die Dinge aus der ‹richtigen› Perspektive betrachtet, können starke Muster entstehen», sagt der Amerikaner dazu.
Barry Mazur ist ein vielseitiger und kreativer Mathematiker: «Er hat ein beeindruckend breites Spektrum der Mathematik behandelt», sagt Giovanni Sommaruga, «anhand seiner Arbeiten könnte man einen guten Teil der Geschichte der Mathematik der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts schreiben.» Sommaruga ist der Organisator der Paul-Bernays-Vorlesungen und Mitglied des Beirats, der Barry Mazur eingeladen hat.
Wie eine Stadt mit blühenden Quartieren
Mazur forschte zunächst im Teilgebiet der Topologie und verwandter Themen. Von dort aus bewegte er sich zur algebraischen Geometrie und zur Zahlentheorie. Zugleich interessieren ihn historische und philosophische Fragen seiner Disziplin. Davon zeugen die Bücher «Imagining Numbers (particularly the square root of minus fifteen)» und «Circles Disturbed – The Interplay of Mathematics and Narrative», das sich mit der Beziehung von Mathematik und Erzählung sowie mit der Rolle von Geschichten für das mathematische Wissen auseinandersetzt.
In Zürich stellt Mazur seine Gedanken zum Thema «Die Einheit und Breite der Mathematik – von Diophantus bis heute» vor und geht der Frage nach, inwiefern die Mathematik heute eine Einheit darstellt und wieweit oder wozu sich verschiedene Teilgebiete oder Theorien vereinheitlichen lassen.
«Die Vielfalt und Verschiedenheit der mathematischen Teildisziplinen ist enorm, und sie scheint im Verlauf der Geschichte der Mathematik sogar noch zuzunehmen. Von daher bleibt die Frage nach ihrer Einheit eine ständige Herausforderung für die Mathematik und ihre Philosophie», sagt Sommaruga, der an der ETH Dozent für Philosophie der Formalwissenschaften ist.
Man könnte die Mathematik in das Bild einer Stadt fassen: Ihre Teilgebiete wären florierende Quartiere mit jeweils eigenen Architekturen, Sprachen und Regeln. Nach ihrer Einheit zu fragen, hiesse, ob sich aus den einzelnen Quartieren wirklich ein zusammenhängendes Stadtbild ergäbe.
Den gemeinsamen Grundlagen des Fachs geht die Philosophie der Mathematik nach. Ein Klassiker in dieser Hinsicht ist das zweibändige Werk «Grundlagen der Mathematik», das Paul Bernays (1888–1977), einstiger ETH-Professor für höhere Mathematik und Namensgeber der Bernays-Ehrenvorlesungen, in den Jahren 1934 und 1939 veröffentlichte.
«Ich sehe die ‹Grundlagen› als einen der grossen Vereinheitlichungs-Schritte in der Geschichte der neueren Mathematik», sagt Mazur, dem dieses Werk ein Ansporn ist, «denn das Buch wirft die allgemeine Frage auf: Was kann man über die vereinigenden Kräfte aussagen, die unser Fach organisieren?»
Heute versuchen Mathematiker, grosse mathematische Gebiete zu grossen Synthesen zu verbinden.Barry Mazur, Professor an der Universität Harvard.
Momentum des Erkenntnisfortschritts
Nicht zuletzt entstehen wesentliche Erkenntnisse, wenn man neue, überraschende Verbindungen zwischen scheinbar weit auseinanderliegenden Teilgebieten herstellen und zusammenfügen kann. «Es gibt äusserst tiefgreifende ‹Analogien›, die ganz unterschiedliche Bereiche der Mathematik miteinander verbinden», sagt Mazur.
«Heute versuchen Mathematiker, grosse mathematische Gebiete – jedes mit seiner eigenen Intuition – zu grossen Synthesen zu verbinden, die, sobald sie durch eine Analogie verbunden sind, eine intuitive Kraft besitzen, die von keinem einzelnen Gebiet allein erreicht wird.»
Mazur hat es selber erlebt, wie ein neuer Forschungsbereich entstehen kann, wenn man eine Verbindung zwischen zuvor getrennten Themen herstellen kann: Seine Beobachtungen in den 1960er-Jahren über Analogien zwischen Primzahlen und Knoten führte zum Bereich der arithmetischen Topologie, als andere Mathematiker in den 1990er-Jahren seine Arbeiten aufgriffen.
Ein Beispiel, das Mazur anführt, und das nicht wenige als die «Grosse vereinheitlichte Theorie der Mathematik» bezeichnen, ist das Langlands-Programm, dessen Urheber, Robert Langlands, in diesem Jahr den Abel-Preis erhalten hat. Das Programm untersucht die Beziehungen zwischen verschiedenen Bereichen der Mathematik wie Algebra, Geometrie, Zahlentheorie, Analysis und Quantenphysik.
Langlands und der Atem der Geschichte
Langlands selber stellte eine Verbindung zwischen der Zahlentheorie und der harmonischen Analyse her, die sich mit Schwingungen beschäftigt. Ein Beispiel dafür sind die elliptischen Kurven, dank denen dem britischen Mathematiker Andrew Wiles 1994 der Beweis des Grossen Satzes von Fermat gelang. Der gilt als ein Höhepunkt in der Geschichte der Mathematik des 20. Jahrhunderts, nachdem sich Zahlentheoretiker zuvor 350 Jahre lang daran die Zähne ausbissen. Barry Mazur seinerseits hat – neben anderen – eine wichtige Vorarbeit für den Beweis erbracht.
Der Beweis bestätigte die Intuition von Pierre de Fermat (1607-1665), dass die Gleichung an + bn = cn keine positiven ganzzahligen Lösungen hat, wenn n grösser als 2 ist. Das Problem geht auf die Antike zurück, auf die Frage, ob es rechtwinklige Dreiecke gibt, bei denen alle Seitenlängen ganze Zahlen sind. Diophantus von Alexandria (um 250 n. Chr.) war der erste, der eine Verbindung zwischen Algebra und Geometrie herstellte und zeigte, dass es unendlich viele Zahlentripel aus je drei ganzen Zahlen a, b und c gibt, sodass die Gleichung a2 + b2 = c2 zutrifft.
«Die Zahlentheorie ist sehr stark mit ihren Vorläufern verbunden, die bis auf die altgriechische Mathematik zurückgehen. Philosophie und Geschichte der Mathematik weisen auf tiefe Richtungen hin, die als Inspiration dienen, um sie weiter zu verfolgen», schliesst Mazur.
Paul Bernays Vorlesungen 2018
Die Einheit und Breite der Mathematik
– von Diophantus bis heute
Paul Bernays Vorlesungen 2018 von Prof. Barry Mazur, Harvard University, USA.
Mit einer Einführung von Prof. Alessandra Iozzi, Department Mathematik, ETH Zürich.
Vortrag 1: Was ist es, das die Mathematik vereinigt?
Dienstag, 11. September 2018, 17.00 Uhr
Auditorium E7, ETH-Hauptgebäude
Vortrag 2: Neue Fragen und Erwartungen im Studium von rationalen Punkten
Mittwoch, 12. September 2018, 14.15 Uhr
Auditorium F3, ETH-Hauptgebäude
Vortrag 3: Diophantische Stabilität und das Verschwinden der
L-Funktionen in den zentralen Punkten
Mittwoch, 12. September 2018, 16.30 Uhr
Auditorium F3, ETH-Hauptgebäude
Alle Vorträge werden auf Englisch gehalten:
Vortrag 1 richtet sich an ein breites Publikum, die Vorträge 2 und 3 an die Forschungsgemeinschaft.
Weitere Informationen finden Sie unter: www.ethz.ch/bernays.