Es braucht noch etwas Geduld
In den letzten Jahren wurden am Gauligletscher Wrackteile einer 1946 abgestürzten Maschine der US Air Force geborgen. Modellrechnungen von ETH-Forschern zeigen nun, dass der Rumpf des Flugzeugs vermutlich erst in 8 bis 16 Jahren aus dem Eis auftauchen wird.
Im November 1946 vollführte eine Maschine der US Air Force auf dem Gauligletscher im Berner Oberland eine veritable Bruchlandung. Der Pilot der Douglas Dakota flog bei einem Flug von München nach Marseille im dichten Nebel zu tief und kollidierte mit dem Gelände. Da die Maschine bei diesem Vorfall mehr oder weniger unversehrt blieb, überlebten alle Insassen den Vorfall und konnten nach einigen Tagen gerettet werden.
Ein Wrack für die Forschung
Der Präsident der Schweizerischen Glaziologischen Kommission, Paul Louis Mercanton, setzte sich in der Folge bei den Amerikanern erfolgreich dafür ein, dass die Unglücksmaschine nicht wegtransportiert wurde. Mercanton argumentierte, das Flugzeug würde vom Schnee zugedeckt und nach und nach im Eis versinken. Irgendwann würde es dann wieder auftauchen, und daraus könne man wertvolle Rückschlüsse auf die Bewegung des Gletschereises gewinnen.
Eine Expedition der Schweizer Luftwaffe im Frühjahr 1947 barg zwar einige Teile der Unglücksmaschine. Doch der grösste Teil des Flugzeugs wurde wie von Mercanton gewünscht an der Unglücksstelle belassen und verschwand tief im Gletschereis.
Unsicherheiten in der berechneten Eisbewegung
Erst in den letzten Jahren gab der Gauligletscher verschiedene Teile des Wracks wieder frei. So konnten beispielsweise im Sommer 2018 in einer aufwändigen Aktion ein Propeller, ein Motorenblock sowie Teile der Flügel geborgen werden. Nun stellt sich natürlich die Frage, wann denn der Rumpf des Flugzeugs wieder an der Oberfläche auftauchen wird.
Forscher der Versuchsanstalt für Wasserbau, Hydrologie und Glaziologie (VAW) der ETH Zürich kommen nun in einer neuen Studie in der Zeitschrift «Frontiers in Earth Science» zum Schluss, dass es bis dahin noch eine Weile dauern wird. Anhand von Modellrechnungen zum Gletscherfliessen erwarten sie, dass der Rest des Flugzeugs zwischen 2027 und 2035 wieder an der Gletscheroberfläche auftauchen wird – allerdings nicht dort, wo die bisherigen Wrackteile gefunden wurden, sondern etwa ein Kilometer weiter oben.
«Dass der Rumpf des Flugzeugs dort auftauchen wird, wo die bisherigen Teile zu Tage kamen, ist unwahrscheinlich, denn dazu müsste sich das Gletschereis in den letzten Jahrzehnten viel schneller bewegt haben als wir es erwarten», erklärt Loris Compagno, der die Modellrechnung im Rahmen seiner Masterarbeit durchgeführt hat.
Spuren der Rettungsaktion
Für die Distanz zwischen der bisherigen und der prognostizierten Fundstelle haben die Forscher eine plausible Erklärung. «Mit unserem Modell haben wir rekonstruiert, wo sich die bisher gefundenen Teile 1947 befunden haben könnten», erläutert Guillaume Jouvet, Forscher an der VAW. «Die Berechnungen zeigen, dass sie vermutlich dort in den Gletscher gelangten, wo die Armee 1947 eine Landepiste für die Bergungsflugzeuge eingerichtet hatte.»
Vermutlich waren die Teile, die bisher aufgetaucht sind, damals schlicht zu schwer für die eher kleinen Rettungsflugzeuge, mit denen man zum ersten Mal überhaupt eine solche Bergungsaktion durchführte. «Allein der Motor war eine halbe Tonne schwer», erklärt Compagno, der anhand von historischen Recherchen auf die Bergungsaktion aufmerksam wurde. «Deshalb hat man diese Teile vermutlich einfach bei der Landepiste liegen gelassen.»
Die Bergung der Dakota
Verschiedene Daten kombiniert
Für ihre Berechnungen haben die Forscher verschiedene Daten miteinander kombiniert: Anhand von früheren Beobachtungen wussten sie ungefähr, wie mächtig der Gletscher Ende der 1940er-Jahre war. Und basierend auf Klimadaten sowie Geländemodellen konnten sie in der Folge berechnen, wie schnell sich der Gletscher in den letzten Jahrzehnten bewegt haben könnte. «Unsere Berechnungen stimmen gut mit aktuellen Messdaten überein, mit denen wir die Geschwindigkeit der Eisbewegung erfassen», erklärt Compagno. «Aber wie schnell sich der Gletscher vor 70 Jahren tatsächlich bewegte, wissen wir natürlich nicht genau.»
Ein Modell für spektakuläre Fälle
Das Gletschermodell der VAW wurde bereits einmal erfolgreich eingesetzt, um einen mysteriösen Fall aufzuklären: Nachdem auf dem Aletschgletscher Leichenteile von drei Brüdern gefunden wurden, die in den 1920er-Jahren verunglückt waren, konnten die ETH-Forschenden mit ihrem Modell zeigen, dass sich die Alpinisten am Unglückstag auf dem Rückweg zur Hütte vermutlich verirrt hatten. «Damals haben wir mit unserem Modell ein vergangenes Ereignis rekonstruiert», erklärt Jouvet. «Nun setzen wir es als Prognoseinstrument ein.»
Als Forscher sei er sehr gespannt, ob sich die Voraussagen über das Auftauchen der Dakota bestätigen werden. Falls der Rumpf des Flugzeugs bereits früher wieder aus dem Eis auftauchen sollte, wäre das für Compagno und Jouvet kein Fehlschlag, im Gegenteil: «Wir bekämen so wichtige Hinweise, wie wir das Gletscherfliessen besser beschreiben könnten.» Sollte der Rumpf beispielsweise dort auftauchen, wo die ersten Wrackteile gefunden wurden, wäre das ein Hinweis, dass sich der Gauligletscher in den 1950er-Jahren viel schneller bewegt haben muss als erwartet. «Das wäre für uns Gletscherforscher eine sehr aufschlussreiche Erkenntnis», erklärt Jouvet. So oder so steht für ihn schon jetzt fest, dass sich Mercantons Initiative für die Gletscherforschung bereits ausbezahlt hat.
Literaturhinweis
Compagno L et. al.: Modelling the Re-appearance of a Crashed Airplane on Gauligletscher, Switzerland. Front. Earth Sci. 2019. DOI: externe Seite 10.3389/feart.2019.00170