Social Distancing ist für Afrika eine enorme Herausforderung
Homeoffice, Fernunterricht, Online-Shopping – viele afrikanische Länder können unsere Massnahmen gegen das Coronavirus nicht einfach übernehmen. Isabel Günther ruft zu internationaler Solidarität auf.
Erstaunt und entsetzt sahen Südafrikanerinnen und Südafrikaner zu, als Präsident Cyril Ramaphosa am 23. März den landesweiten Lockdown verkündete. Mit dazumal 274 offiziell bestätigten Covid-19-Fällen hielten viele diese Massnahme für übertrieben. Zahlreiche afrikanische Staaten folgten jedoch diesem Beispiel und verordneten einen nationalen Lockdown bei wesentlich geringeren Fallzahlen als in Europa.
Afrikanische Regierungen reagierten rasch
Durch die schnell verhängten Ausgangssperren konnten afrikanisch Regierungen bisher einen flächendeckenden Ausbruch verhindern. Die Auswirkung und Umsetzung dieser Massnahmen unterscheiden sich aber stark von der Schweiz. Ein Virus unterscheidet nicht zwischen arm und reich. Für die Armen ist es allerdings ungleich schwieriger, sich vor dem Virus zu schützen.
Lockdowns sollen die «Kurve abflachen» – die Ausbreitung von Covid-19 verlangsamen – um sicherzustellen, dass das Gesundheitssystem nicht überlastet wird. Angesichts der fehlenden medizinischen Infrastruktur und der limitierten Möglichkeiten, schwere Covid-19-Fälle zu behandeln, müssen afrikanische Länder ihre «Kurven» deutlich stärker abflachen.
Zwar ist die Bevölkerung Afrikas viel jünger als in Europa, was die Zahl schwerer Covid-19-Fälle begrenzen könnte. Millionen junger Menschen leiden allerdings an HIV/AIDS, Unterernährung, Tuberkulose und anderen Atemwegsinfektionen, was sie wiederum anfälliger machen könnte.
Ein Privileg für wenige
Ein grosser Teil der städtischen Bevölkerung Afrikas lebt in dichtbesiedelten informellen Siedlungen mit kleinen Ein- bis Zweizimmer-Wohnungen. Die Unterschiede auf dem Kontinent sind zwar gross, im Durchschnitt teilen sich jedoch 45 Prozent der Haushalte die Toilette mit ihren Nachbarn, und für 17 Prozent ist der einzige Zugang zu Wasser ein öffentlicher Brunnen. Zu erwarten, dass diese Menschen ihr Haus nicht verlassen, ist schlicht unrealistisch.
Social Distancing bedroht die Existenzgrundlage armer Menschen unmittelbar. Viele sind Strassenverkäufer oder Arbeiterinnen mit Tageslohn, die nicht von zu Hause aus arbeiten können. Diese Menschen haben ihr Einkommen mit den Ausgangssperren von einem Tag auf den anderen verloren. Etwa 80 Prozent der Bevölkerung arbeiten im informellen Sektor – ohne Arbeitsverträge, geschweige denn einer Arbeitslosenversicherung oder der Möglichkeit von Kurzarbeit.
«Das Coronavirus stoppt nicht an Landesgrenzen, und das sollte auch für unsere Gegenmassnahmen gelten.»Isabel Günther
Lockdowns werden sich verheerend auf die Ernährungssicherheit und Gesundheit der Armen auswirken. Laut einer aktuellen Studie von UN-WIDER könnte der Anteil in extremer Armut lebender Menschen (weniger als 1,90 internationale $ pro Tag) durch die wirtschaftlichen Effekte des Social Distancing zum ersten Mal seit 30 Jahren wieder steigen.1
Alle afrikanischen Schulen sind derzeit geschlossen.2 Das wird die Bildungschancen der Kinder extrem gefährden. Die Schule meines Sohnes in Zürich schickt wöchentlich Lehrmaterial per E-Mail oder Video. Für die meisten Schulen auf unserem Nachbarkontinent ist dies aufgrund des beschränkten Internetzugangs nicht möglich. Die digitale Kluft wird das globale Ungleichgewicht im Zugang zur Bildung weiter vergrössern.
Corona betrifft uns alle
In den meisten afrikanischen Ländern sind die gemeldeten COVID-19 Fälle (wenn auch unterschätzt) bislang überschaubar.3 Die frühen Massnahmen scheinen die Ausbreitung des Virus in arme, städtische Gebiete verlangsamt zu haben. Doch das Virus wird sich sehr wahrscheinlich weiter verbreiten. Dabei sind die Schwächsten schon heute unverhältnismässig stark vom globalen Lockdown betroffen.
Als Gesellschaft liegt es in unserer Verantwortung, gegenüber den Menschen auf unserem Nachbarkontinent die gleiche Solidarität zu zeigen wie gegenüber unseren Nachbarn in der Schweiz. Das Coronavirus macht nicht an Landesgrenzen Halt, und das sollte auch für unsere Gegenmassnahmen gelten. Social Distancing erfordert Social Protection, damit die Armen der Welt nicht die Kosten des Kampfes gegen das Virus tragen müssen.
Um die Folgen der Pandemie zu lindern, können wir Gesundheitssysteme unterstützen und Cash-Transfer-Programme ausbauen. Viele Studien zeigen, dass dies ein effektives Instrument ist, um das Leben armer Menschen zu verbessern, insbesondere im Fall von Einkommensverlust. Längerfristig sollten wir alle Gesellschaften dabei unterstützen, die Voraussetzungen zu schaffen, um Pandemien zu bewältigen – und menschenwürdige Lebensbedingungen für alle zu gewährleisten.
Wir alle informieren uns zurzeit täglich über aktuelle Covid-19-Zahlen. Wir könnten uns vornehmen, in Zukunft auch anderen globalen Daten dieselbe Aufmerksamkeit zu schenken, zum Beispiel den Zahlen zu Infektionskrankheiten, Zugang zu Wasser und Seife oder extremer Armut.4
Isabel Günther schrieb diesen Blogbeitrag zusammen mit Antoinette van der Merwe, Doktorandin an der ETH Development Economics Group. Antoinette besuchte ihre Familie in Südafrika, als die Flughäfen wegen des Lockdowns geschlossen wurden.
Referenzen
1 United Nations University: externe Seite Estimates of the impact of COVID-19 on global poverty WIDER Working Paper 2020/43
2 UNESCO externe Seite COVID-19 Educational Disruption and Response
3 Johns Hopkins externe Seite Corona Virus Resource Center
4 WHO externe Seite Coronavirus disease (COVID-19) data; see also externe Seite Our World in Data
ETH4D für Afrika
ETH for Development (ETH4D), die ETH-weite Initiative zur Förderung innovativer Technologien zur Lösung globaler Entwicklungsprobleme, hat angesichts der aktuellen Situation entschieden, für ihre Research Challenge Grants einen speziellen Call for Proposals zu veröffentlichen.
Mit diesem Call werden ETH-Professorinnen und -Professoren dazu aufgerufen, Anträge für Forschungsprojekte einzureichen, die dazu beitragen, die Ausbreitung infektiöser Krankheiten in afrikanischen Ländern zu verhindern oder die negativen Konsequenzen einer Pandemie/Epidemie für Menschen auf dem afrikanischen Kontinent abzumildern. Ein Fokus auf die aktuelle COVID-19-Krise ist gewünscht, aber nicht vorausgesetzt. Die Fördersumme liegt zwischen 10.000 und 50.000 CHF. Die Deadline für den Call ist der 17. Mai 2020.