Ein unterschätzter Faktor
Wie sich die Platten der Erdkruste bewegen, hängt massgeblich vom Verhalten der darunter liegenden Mantelgesteine ab. Eine neue ETH-Studie zeigt nun, dass die Korngrösse dieser Gesteine eine zentrale Rolle spielt.
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Das Gesicht unserer Erde wird durch Kräfte tief im Erdinnern geformt. Diese sorgen dafür, dass die Platten der Erdkruste gegeneinander geschoben werden und sich entlang der Kollisionszonen Gebirge und Vulkane bilden. Doch was sich im Erdinneren genau abspielt, lässt sich nur durch indirekte Beobachtungen rekonstruieren, beispielsweise durch Druckexperimente an Gesteinen aus dem Erdmantel oder durch die Analyse von Erdbebenwellen.
Schwachstelle im Modell
Doch all diese Beobachtungen liefern nur Momentaufnahmen. Will man die Dynamik des Geschehens über mehrere Millionen Jahren verstehen, braucht es Computermodelle, mit denen sich die geologischen Abläufe im Zeitraffer simulieren lassen. Füttert man diese Modelle mit den oben erwähnten Beobachtungsdaten und physikalischen Formeln, kann man aufzeigen, wie sich die Erdoberfläche und das Erdinnere im Laufe der Zeit verändern.
Die Krux dabei: Jedes Modell basiert auf Vereinfachungen und ist damit anfällig für Fehler. Dabei können auch Faktoren, die auf den ersten Blick nicht besonders wichtig scheinen, einen entscheidenden Einfluss haben, wie eine neue Studie aus der Gruppe für Strukturgeologie und Tektonik am ETH-Departement Erdwissenschaften demonstriert. Die Forschenden können mit ihren neuen Simulationen zeigen, dass ein entscheidender Faktor, die Korngrösse der Mantelgesteine, in bisherigen Modellen nicht angemessen berücksichtigt wurde, auch wenn anerkannt ist, dass diese einen potenziellen Effekt hat. Die neuen Simulationen zeigen nun, wie gross der Effekt der Korngrösse tatsächlich ist.
Versetzung oder Diffusion?
Relevant ist die Korngrösse, weil sie einen Einfluss darauf hat, wie sich die Gesteine im oberen Erdmantel verformen. Bewegt sich die Korngrösse im Bereich von einigen Millimetern, verformen sich die Mineralien in den Gesteinen hauptsächlich, indem sich das Kristallgitter der Mineralien entlang von Ebenen versetzt. Das führt zu sogenanntem Versetzungskriechen, das als wichtigster Mechanismus der Gesteinsverformung im Erdmantel gilt.
Ist die Korngrösse hingegen kleiner, wird ein anderer Mechanismus wichtiger: das Diffusionskriechen. Die Gesteine verformen sich dann nicht mehr durch Versetzungen im Kristallgitter der Mineralien, sondern indem einzelne atomare Leerstellen im Kristallgitter durch die Kristallstruktur wandern. Je nachdem, welcher Verformungsmechanismus vorherrscht, ändert sich die Festigkeit der Gesteine.
Viele offene Fragen
«Feinkörnige Gesteine entstehen vor allem in Scherzonen und sind viel weicher als die nicht verformten grobkörnigen Gesteine», erklärt Jonas Ruh, Oberassistent in der Gruppe und Hauptautor der Studie. «Doch bisher gelang es nicht, diese Unterschiede in einem dynamischen Modell realitätsnah abzubilden.» Einige der bisherigen Modelle berücksichtigten nur das Versetzungskriechen, was eine grobe Vereinfachung darstellt. Andere Modelle verwenden konstante Korngrössen für die oberen Mantelgesteine, was der Sache auch nicht gerecht wird.
Ruh hat für sein neues Modell aktuelle Studien von anderen Gruppen sowie Laborexperimente aus der eigenen Forschungsgruppe berücksichtigt. «Konkret haben wir ein neues Wachstumsmodell für das Hauptmineral Olivin in unser Modell einbezogen», erläutert er. «Und wir wissen heute aufgrund von neuen Untersuchungen auch, dass in Scherzonen wesentlich weniger mechanische Energie für die Verkleinerung der Korngrösse zur Verfügung steht als bisher angenommen.» Berücksichtigt man die neuen Erkenntnisse, lässt sich das Geschehen im Erdmantel wesentlich realitätsnaher modellieren.
Widerspruch löst sich auf
Ruh konnte zeigen, dass die Verringerung der Korngrösse, die Aktivierung des Diffusionskriechens und die daraus resultierende Schwächung des obersten Mantels das Aufbrechen von Kontinenten erleichtern kann.
Anlass für die neue Studie war jedoch eine andere, scheinbar paradoxe plattentektonische Konstellation: So weiss man, dass der oberste Bereich des Erdmantels relativ fest sein muss. Denn nur so lässt sich erklären, warum tektonische Platten, die unter eine andere Platte geschoben werden, nicht in einem steileren Winkel in die Tiefe abtauchen.
Doch wenn dieser Mantelbereich so fest ist, wie das die Geometrie von abtauchenden Platten erfordert, müssten sich die Gesteine im obersten Erdmantel angesichts der grossen Spannungen, die dort herrschen, spröde verhalten: Es müsste in diesem Bereich des Erdmantels Erdbeben geben, welche die Spannung ruckartig abbauen. Doch solche Beben hat man bisher nur äusserst selten beobachtet.
Mit dem neuen Modell lässt sich das Paradox nun auflösen: «Die hohen Spannungen werden von den feinkörnigen, weichen Scherzonen so weit abgebaut, dass keine Erdbeben mehr entstehen können», erklärt Ruh. «Gleichzeitig bleibt der oberste Bereich des Erdmantels fest genug, damit dies mit der beobachteten Geometrie von abtauchenden Platten vereinbar ist.»
Literaturhinweis
Ruh JB et al. Grain-size-evolution controls on lithospheric weakening during continental rifting. Nature Geoscience, June 16 2022. DOI: externe Seite 10.1038/s41561-022-00964-9