Keine Frau der grossen Planung
Sara van de Geer war die erste Mathematik-Professorin an der ETH. Nach 18 Jahren Forschung und Lehre in Zürich wurde sie nun emeritiert. Noch ändert sich wenig für die Niederländerin. Das ist ihr ganz recht so.
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Es sei für sie ein kleiner Schock gewesen, sagt Sara van de Geer. Sie bezieht sich auf eine Meldung, die sie 2021 erhielt, als sie einen Mitarbeiter anstellen wollte. Sie dürfe die Anstellung nicht bewilligen, da sie ja bald pensioniert werde und die Anstellung bis über ihre Pensionierung hinaus dauere. «Das stimmt doch nicht», dachte die damals 63-Jährige, die davon ausging, erst mit 65 pensioniert zu werden.
«Diese Nachricht traf mich aus heiterem Himmel. Ich war Vorsitzende, Studiendirektorin und in verschiedenen Ausschüssen tätig - und konnte nicht glauben, dass ich schon bald mitten im Arbeitsleben offiziell gestoppt werden soll», sagt van de Geer. «Ich musste einen Verlängerungsantrag stellen. Zum Glück wurde er angenommen – und ich konnte ein weiteres Jahr als Professorin weiterarbeiten.»
«Wir leben in einer komplizierten Welt, aber es gibt eine zugrunde liegende Struktur.»Sara van de Geer
Jetzt, über zwei Jahre danach, zeigt sich van de Geer amüsiert über die damals unerwartete Meldung ihrer bevorstehenden Pensionierung. Diese Episode passt zur gebürtigen Niederländerin. «Ich war nie eine grosse Planerin», sagt sie in ihrem Büro im Hauptgebäude, welches bis auf ein Gestell mit Büchern und je einem Schreib- und Sitzungstisch mit Stühlen bereits leergeräumt ist. Seit Ende Juli ist die Mathematikprofessorin offiziell emeritiert, sie wird aber auch im kommenden Semester an der ETH unterrichten.
Die heute 65-Jährige hatte nicht geplant, dass sie jemals in die Forschung gehen oder gar als Professorin arbeiten würde. Ebenso nicht, dass sie einmal in der Schweiz leben wird. Selbst die Wahl ihres Forschungsthemas während des Mathematikstudiums in ihrer Heimatstadt Leiden sei eher zufällig gewesen, sagt van de Geer. «Einer der Gründe, warum ich mich für Statistik zu interessieren begann, waren die Professoren des Fachs: Sie waren alle sehr nett. Und ihre Arbeit und die Ergebnisse ihrer Forschung faszinierten mich.»
Auf der Suche nach einer Struktur
In ihrer Forschung befasst sich van de Geer hauptsächlich mit Statistik für hochdimensionale Probleme – dazu gehören Wahrscheinlichkeitsrechnung und Maschinelles Lernen. Sie sucht dabei immer nach Lösungen, wie sich Komplexität reduzieren lässt. «Wir leben in einer komplizierten Welt. Aber in allen Dingen gibt es eine zugrunde liegende Struktur. Diese Struktur wollen wir finden, und die Statistik ist das Mittel, um aus der Fülle von Daten sinnvolle Informationen zu gewinnen», sagt die Wissenschaftlerin.
Früher habe man ein Modell entwickelt und dann die zughörigen Daten analysiert, erläutert van de Geer. «Ein klassisches Paradigma der Statistik lautet, dass man das Modell nicht anpassen soll, nachdem man die Daten angeschaut hat. Jetzt kommen wir teilweise von diesem Paradigma weg und entscheiden zum Beispiel anhand von Daten, welche Variabeln im Modell aufgenommen werden und welche nicht.»
Bereits vor über 20 Jahren erkannte van de Geer, dass der Umgang mit riesigen Datenmengen in Zukunft immer wichtiger wird. So war sie schon 2002 Mitorganisatorin eines Workshops über die Analyse hochdimensionaler Daten. Darin ging es zum Beispiel um die Auswertung sogenannter Microarrays in der biomedizinischen Forschung und der Medizin. Mithilfe solcher Chips kann bei einer Person gemessen werden, wie aktiv ihre Gene sind - bei Tausenden von Genen gleichzeitig, was genaue Diagnosen ermöglicht. «Statt dass die Ärztin oder der Arzt einzelne Messungen vornimmt – sagen wir den Blutdruck bestimmt, eine Urinprobe auswertet und die Herztöne abhört – hat man mit Microarrays auf einen Schlag 20'000 Messungen», sagt die emeritierte Professorin. «Die Herausforderung ist es nun, solche Microarray-Daten einer relativ kleinen Stichprobe von Personen statistisch auszuwerten - mit dem Ziel, bei einer Einzelperson das Risiko für eine bestimmte Krankheit einschätzen zu können.»
Zehnmal mehr Studierende
Die Niederländerin forscht in einem Fachgebiet, das aktueller ist denn je: Mit immer leistungsstärkeren Computern können immer mehr Daten immer schneller gespeichert werden. Wer diese Daten interpretieren und verstehen will, muss sie statistisch erfassen und auswerten können.
Das zunehmende Interesse an Statistik zeigt sich auch bei den Studierendenzahlen: 2005, als van de Geer in Zürich anfing, besuchte ein Dutzend Personen ihre Vorlesungen. Heute seien es 120 Studierende und mehr – was auch mit der Einführung des interdisziplinären Studiengangs Datenwissenschaft zu tun hat.
Die steigenden Studierendenzahlen freuen die Professorin, bereiten ihr gleichzeitig aber auch Sorge. Problematisch sei dies insbesondere bei der Masterarbeit. «Eine Eins-zu-eins-Betreuung ist bei so vielen Studierenden kaum möglich. Zudem wird es immer aufwendiger, Prüfungen, die nicht auf Multiple-Choice-Fragen beruhen, zu korrigieren.»
Der persönliche Umgang mit Menschen war der Professorin immer wichtig. Besonders gefreut hat es sie jeweils, wenn Studentinnen und Studenten sich bei ihr für eine Vorlesung bedanken. Oder ihr Jahre später sagen, dass ihnen das Gelernte in ihrer weiteren Karriere geholfen habe. «Solches zu hören, macht mich sehr stolz», sagt sie.
Vom König zur Ritterin ernannt
Van de Geer ist Mitglied von verschiedenen Wissenschaftsakademien, wie zum Beispiel der European Academy of Sciences, der Deutschen Akademie der Naturforscher Leopoldina oder der amerikanischen National Academy of Sciences. 2010 wurde sie eingeladen, am Internationalen Mathematikerkongress einen Vortrag zu halten – eine besondere Ehre. Von 2007 bis 2015 war sie Mitglied im Forschungsrat des Schweizerischen Nationalfonds. 2015 wurde sie für ihre Leistungen vom niederländischen König zur Ritterin des Orange-Nassau-Ordens ernannt. Von 2015 bis 2017 war sie Präsidentin der Bernoulli Society for Mathematical Statistics and Probability.
Bevor sie 2005 als erste Mathematikprofessorin der ETH nach Zürich kam, war van de Geer ordentliche Professorin in Leiden. Dass es sie in die Schweiz verschlug, verdanke sie in erster Linie einem abgewiesenen Antrag für Forschungsförderung in den Niederlanden, erzählt van de Geer in ihrer Abschiedsvorlesung an der ETH. Amüsiert zeigt sie dem Publikum, warum der Nationale Forschungsrat der Niederlande den Antrag damals ablehnte: «Wir haben Zweifel, ob Frau van de Geer in der Lage ist, Doktoranden und Postdocs zu inspirieren», stand im Brief an die Professorin.
Ihr erschien die Begründung fadenscheinig, zumal dieser Forschungsrat ihre Arbeit wissenschaftlich als für sehr gut befand. Just zu diesem Zeitpunkt rief sie ETH-Professor Peter Bühlmann an und schlug ihr vor, sich in Zürich für eine Stelle zu bewerben. «Dass ich mich dann tatsächlich an der ETH bewarb, war einer der besten Entscheidungen meines Lebens», sagt van de Geer.
Als Frau in einer Männerdomäne
Als Frau in ihrem Fachgebiet eine von wenigen zu sein, hat sie zuerst nicht gestört. «Als Studentin war es schön, so viele gleichaltrige Männer um mich zu haben», sagt die Wissenschaftlerin mit Schalk in den Augen. Offenbar störte sich während der ganzen akademischen Laufbahn aber immer wieder mal ein Mann an ihrer Anwesenheit und ihrem Wirken. So zum Beispiel während des Studiums: «Einzelne Professoren versuchten mich einzuschüchtern und liessen mich wissen, dass ich woanders hingehöre.»
Auch nach dem Studium wurde sie ab und zu anders behandelt als ihre männlichen Kollegen. In Leiden, bevor sie zur Professorin ernannt wurde, trugen bestimmte Mitarbeiter ihr zum Beispiel auf, Kaffee zu kochen, Texte zu tippen und für sie Büroarbeiten zu erledigen. «Als ich Professorin wurde, wurde ich für gewisse Männer zur Bedrohung, und sie fingen an, mich herauszufordern. Ich hatte das Gefühl, ich müsste stets beweisen, ein Genie zu sein.»
Sie erinnert sich, wie sie am Anfang ihrer Professur in Leiden von ihrem Vorgesetzten dazu gedrängt wurde, einen Antrag für Forschungsgelder zu schreiben – zusammen mit einer Kollegin, die in einem völlig anderen Fachgebiet tätig war. «Wir sahen wenig Sinn darin, versuchten aber dennoch, unsere beiden Forschungsfelder miteinander zu verknüpfen. Natürlich wurde der Vorschlag abgelehnt, weil es unmöglich war, einen Zusammenhang herzustellen.» Einem Mann, so glaubt sie, wäre das wohl nicht passiert.
«Ich freue mich auf ein neues Leben. Auch wenn ich mir noch nicht sicher bin, was auf mich zukommt.»Sara van de Geer
In Zürich hat sie so etwas nicht erlebt. Die ETH sei ein toller Ort zum Arbeiten. Hier könne man frei forschen und diejenigen Gesuche schreiben, die man möchte und die einem auch nahe liegen», sagt sie. Besonders dankbar sei sie den vielen netten Menschen hier in Zürich. «Ich wurde sehr gut aufgenommen und fühlte mich hier wohl.»
Mit Statistik in den Flow kommen
Die emeritierte Professorin lebt mit ihrem Sohn in Illnau-Effretikon. Er studiert an der ETH Informatik. «Das Fach Maschinelles Lernen hasst er aber. Und das ist ja quasi eine moderne Version von Statistik», sagt van de Geer und lacht.
In ihrer Freizeit arbeitet sie bevorzugt mit den Händen. «Ich putze gern und mag Gartenarbeit. Oder ich repariere kaputte Dinge.» Sie zeichnet und hört und spielt klassische Musik. Bei ihr zu Hause steht neben einem Klavier ein Cembalo.
Aber auch ihre Arbeit fasziniert van de Geer nach all den Jahren immer noch. «Es gibt so vieles im Alltag, das auf Simulationen und empirischen Erkenntnissen beruht. Ich leite sehr gerne Beweise her, und es befriedigt mich, eine theoretische Grundlage dafür zu finden, warum bestimmte Algorithmen sehr gut oder manche gar nicht funktionieren.»
Für die Wissenschaftlerin ist das Arbeiten mit Mathematischer Statistik ein kreativer Prozess, der sie dann und wann in den Flow-Zustand versetzt. Das sei wie beim Lösen eines Rätsels oder Puzzles, erklärt sie. «Man studiert und probiert lange – und plötzlich beginnen die Teile zusammenzupassen.» Das sei ein grosser Moment, in dem man die Welt um sich herum vergesse. «In einem solchen Moment möchte man sich durch nichts ablenken lassen, einfach nur weitermachen und das Puzzle fertigstellen.»
Putzen für ältere Menschen
Im kommenden Semester wird die emeritierte Mathematikprofessorin ihre Vorlesungen an der ETH weiterführen und noch laufende Masterarbeiten betreuen und bewerten. Bis mindestens 2025 engagiert sie sich zudem weiterhin in verschiedenen internationalen Gremien.
Und danach? «Ich weiss es nicht, ich bin offen für alles. Es gibt mehr im Leben als die Arbeit, die ich bisher gemacht habe, und ich freue mich auf ein neues Leben. Auch wenn ich mir noch nicht sicher bin, was auf mich zukommt.»
Freiwilligenarbeit könnte sie sich gut vorstellen, zum Beispiel Reinigungsarbeiten für ältere Menschen. Oder endlich mal richtig Klavierspielen lernen. Oder einfach wieder einmal ungestört vor einem leeren Blatt nach Lösungen suchen und so in den Flow-Zustand kommen. Hauptsache, sie muss nicht zu viel planen.