Grenzenlos trainieren: Wenn die Luft kein Widerstand mehr ist
Die Topsprinterin und ETH-Studentin Géraldine Frey bereitet sich mit einem innovativen Trainingsgerät auf ihre Wettkämpfe vor. Der an der ETH Zürich entwickelte Airshield ermöglicht das Laufen ohne Luftwiderstand und in Übergeschwindigkeit.
(Bild: Alessandro Della Bella / ETH Zürich)
Nur noch wenige Sekunden bis zum Start. Die Sonne brennt vom Himmel und treibt der Athletin Schweissperlen auf die Stirn. Géraldine Frey bringt sich auf der Laufbahn in Position. Langsam streckt sie ihren linken Arm aus zum Zeichen, dass sie bereit ist. Hoch konzentriert wartet sie auf grünes Licht. Dann rennt sie los.
Doch im Stadion bleibt es still. Die Zuschauerränge sind leer. An diesem heissen Junitag findet im Stadion Letzigrund kein Wettkampf statt. Es geht um Forschung. Die 27-jährige Sprinterin ist Teil eines Teams, das ein innovatives, von der ETH Zürich entwickeltes Trainingssystem testet: ein nach hinten offenes Gefährt aus Plexiglas, das von einem Gokart gezogen wird. Läuft die Athletin hinter diesem Windschutz, dem sogenannten Airshield, muss sie gegen weniger Luftwiderstand ankämpfen und kann dadurch schneller rennen.
«Globe» Eine Welt ohne Barrieren
Dieser Text ist in der Ausgabe 24/03 des ETH-Magazins Globe erschienen.
Alles ausreizen
Dass das Training heute überhaupt stattfinden kann, ist dem guten Wetter zu verdanken. Denn der Airshield wurde auf Wunsch der Athletinnen für das Trainieren unter warmen und trockenen Bedingungen optimiert. «Es ist toll, dass wir das Training durchführen können, nachdem es wegen Regens mehrmals verschoben werden musste», sagt Géraldine Frey. Das Zeitfenster, das ihr bis zu den Olympischen Spielen in Paris noch bleibt, wird immer enger. Drei Jahre hat sie sich auf dieses grosse Ziel vorbereitet. «In Paris will ich meine Höchstleistung erreichen», sagt die Zugerin vor dem Training. «Darum möchte ich jetzt alles, was mich schneller macht, ausreizen.»
Beim Laufen im Windschatten des Airshield handelt es sich um eine neuere Form des Übergeschwindigkeitstrainings: ein Schnelligkeitstraining, bei dem die Bewegungsgeschwindigkeit durch den Einsatz von Geräten gesteigert wird und Leistungsgrenzen verschoben werden können. Doch bis Athletin und Geräte für das Training mit dem Airshield bereit sind, werden im Stadion Letzigrund noch rund zwei Stunden vergehen. Mittlerweile ist Andrea Carron, ETH-Forscher und Leiter des Airshield-Projekts, eingetroffen. Er vergewissert sich, dass der Elektro-Gokart, der den Windschutz zieht, vollständig aufgeladen ist, die Verbindungskabel zum Airshield gelegt sind und die hochkomplexe Technik funktioniert. Auch Melanie Zeilinger, ETH-Professorin am Departement Maschinenbau und Verfahrenstechnik, ist vor Ort. Gespannt erwartet sie den ersten Lauf: «Wir haben den Airshield in nur wenigen Monaten entwickelt. Die Freude, dass nun Athletinnen damit trainieren können, ist gross.»
Trainieren mit Übergeschwindigkeit
Doch was genau ist das Ziel dieser Neuentwicklung? «Wir wollen herausfinden, welche Vorteile das Training mit Übergeschwindigkeit hat – auch gegenüber anderen Geräten», erklärt Andrea Carron. Beim Schnelligkeitstraining sollen Athletinnen und Athleten Bewegungsabläufe optimieren, verinnerlichen und die Höchstleistung später in einer Wettkampfsituation wieder abrufen können. Das Trainieren mit dem Airshield reduziert den Luftwiderstand massiv. Denn je schneller jemand rennt, desto grösser wird der Widerstand – und das im Quadrat. Gegenüber einer anderen Methode des Übergeschwindigkeitstrainings, bei der die Läuferin von einem am Rumpf befestigten Kabel nach vorne gezogen wird, hat der Airshield für Géraldine Frey klare Vorteile: Sie kann schneller als normalerweise möglich sprinten und dabei die natürliche Laufposition behalten. Und sie wird nicht durch einen Kabelzug zusätzlich beschleunigt, sondern kann die Geschwindigkeit ganz aus eigener Kraft erreichen.
Beim jetzigen Setting bestehend aus Gokart und Airshield handelt es sich um einen Prototyp. Begonnen hatte alles mit einer Anfrage der Coaches des Schweizer Sprinterinnenteams, zu dem neben Géraldine Frey auch die amtierende Europameisterin Mujinga Kambundji gehört. Sie wollten wissen, ob die ETH Zürich bereit sei, einen Airshield zu entwickeln, mit dem Topsprinterinnen und -sprinter trainieren und bestenfalls ihre Wettkampfleistung verbessern können. Entstanden ist ein Projekt, das Wissenschaft, Sport und Technologie in sich vereint. Geleitet wird es von ETH-Professorin Melanie Zeilinger und ETH-Professor Emilio Frazzoli, der den Gokart entwickelt hatte, welcher nun zum Ziehen des Airshield verwendet wird. Der Algorithmus, der die automatische Anpassung des Airshield an die Läuferin ermöglicht, wurde ebenfalls von Forschenden des Instituts für Dynamische Systeme und Regelungstechnik erstellt. Später stiess mit ETH-Professorin Christina Spengler eine Fachperson aus den Gesundheitswissenschaften zum Projektteam, die zusätzlich die sportwissenschaftlichen Aspekte des neuen Trainingssystems untersucht.
Im Stadion ist die Temperatur derweil weiter angestiegen. Während das Reinigungspersonal die leeren Tribünenplätze mit Wasserschläuchen abspritzt, beginnt für Géraldine Frey und ihre beiden Teamkollegen die Aufwärmphase. Diese ist zentral, um Verletzungen vorbeugen zu können – auch bei Aussentemperaturen von 30 Grad Celsius.
Studium und Sportkarriere
Frey war schon in der Primarschule sportbegeistert. Ihre Leichtathletiklaufbahn begann in der Kantonsschule Zug. Später entdeckte sie den Reiz am Profisportlersein, doch hundert Prozent auf ihre Sportlerkarriere setzen wollte sie nicht: Sie entschied sich für ein Studium der Pharmazeutischen Wissenschaften an der ETH und begann nach ihrem Bachelorabschluss noch ein Masterstudium. «Die ETH ist sportfreundlich und kommt mir als Kadermitglied entgegen», sagt Frey, «das schätze ich sehr.» In einem Jahr will sie den Master abschliessen, doch bis dahin möchte sie im Hinblick auf die Olympischen Spiele nochmals als Sprinterin Vollgas geben.
Am Rande der Laufbahn richtet sich Christina Spengler ein. Auf einem Schwedenkasten steht ein Laptop, wo die ETH-Professorin ein Video eines Trainingslaufs anschaut. Sie zeigt dabei, wie das «Andocken» der Athletin an das Trainingsgerät abläuft: «Die Athletin rennt los, der Gokart setzt sich in Bewegung, ist aber noch langsamer als die Läuferin. Ein Sensor im Airshield erkennt dies – das Fahrzeug beschleunigt.» Wie hoch die Beschleunigung sein muss, damit die ideale Distanz zwischen Läuferin und Airshield eingehalten werden kann, berechnet ein Algorithmus aufgrund des Abstands und der Geschwindigkeit der Läuferin. Und kontrolliert so direkt die Geschwindigkeit des Gokarts. Der Fahrer übernimmt lediglich die Steuerung.
Technologie trifft Sport
Doch nun wird Spengler auf der Bahn gebraucht. Sie legt spezielle Sohlen, die der ETH-Biomechaniker Roland Zemp mit seinem Luzerner Start-up entwickelt hat, in die Laufschuhe von Géraldine Frey und befestigt zwei Sensoren an ihrem unteren Rücken. Diese zeichnen die Bewegungen der Athletin auf, während die Sensorsohlen die Druckverteilung beim Laufen messen. «Wir wollen die Laufdynamik und die Biomechanik mit neuen Tools erfassen», so Spengler. Im Airshield befindet sich zwar eine Frontalkamera, die den Lauf aufzeichnet – mit den Sohlen und den Sensoren lassen sich jedoch noch diverse weitere Messparameter erfassen, die wichtig sind, um die Sprints mit und ohne Airshield und auch mit der Seilzugtrainingsmethode vergleichen zu können.
Aufgewärmt und mit Sensoren versehen: Géraldine Frey ist bereit für den ersten Lauf. Nach einigen Wochen Pause wird sie heute zum dritten Mal mit dem Airshield trainieren. «Am Anfang muss ich jeweils wieder etwas Vertrauen gewinnen, dass das Gerät auch wirklich mit mir mitgeht. Aber dann kann ich voll beschleunigen, das macht richtig Spass.»
Frey rennt los, ihr Trainer Lucio di Tizio feuert sie an: «Allez, Géry, come on – jetzt!» Nach siebzig Metern erreicht sie das Ziel. Frey ist zufrieden mit der Zeit des ersten Laufs. Die Geschwindigkeitsmaximierung bringe vielleicht nur einen Zentimeter pro Schritt, aber bei fünfzig Schritten sei das schon ein halber Meter. Das Laufen ohne Luftwiderstand sei ein unglaubliches Gefühl, sagt sie: «Fast so, als ob man fliegen würde.»