«Manchmal braucht es einen Schandfleck, um die ganze Geschichte zu erzählen»
Denkmäler erzählen Geschichte, doch nicht immer die ganze. Warum Denkmalpflege breiter gedacht werden muss und welche Orte auch Schutz verdienen, erklärt Architekturprofessorin Silke Langenberg im Interview anlässlich des 50. Jubiläums des Europäischen Denkmalschutzjahrs.

1975 war das Motto des Denkmalschutzjahrs «Eine Zukunft für unsere Vergangenheit». 50 Jahre später heisst es: «Eine Zukunft für wessen Vergangenheit?». Um wessen Vergangenheit geht es denn?
Silke Langenberg: 1975 ging es darum, die historische Bausubstanz zu schützen, die durch die Stadterneuerung von Abrissen bedroht war. Damals wurden in der Schweiz viele Initiativen angestossen, die bis heute nachwirken. Das Jubiläumsjahr 2025 spinnt den Gedanken nun weiter: Wessen Erbe bewahren wir überhaupt– und wessen Geschichte ist bislang zu wenig oder gar nicht berücksichtigt? Die meisten Bauwerke werden geschützt, weil sie baukünstlerische oder zeitgeschichtliche Bedeutung haben. Doch viele Objekte und Orte erzählen Geschichten, die nicht Teil des kollektiven Gedächtnisses sind. Sie haben aber für bestimmte Gruppen eine tiefere Bedeutung, etwa Baracken von Gastarbeiterinnen und -arbeitern, Obdachlosenunterkünfte oder auch Kinderheime und Frauenhäuser. Wir nehmen das Denkmalschutzjahr 2025 zum Anlass, breit zu diskutieren, wer wie am baukulturellen Erbe der Schweiz teilhat.
War Diversität beim Denkmalschutz bisher denn noch kein Thema?
Das Anliegen ist nicht neu: Die Leitsätze zur Denkmalpflege in der Schweiz beispielsweise adressierten bereits 2007 explizit auch das Erbe von Minderheiten. Wissenschaft und Praxis haben erkannt, wie wichtig die kulturelle Bedeutung und die Vielfalt von Denkmälern ist. Trotzdem scheinen noch immer vergleichsweise wenig Objekte geschützt, deren Erhaltung insbesondere für Minderheiten bedeutend wäre.
Wer oder welche Themen kamen bisher in der Denkmalpflege zu kurz?
Um diese Frage zu beantworten, haben wir in einem ersten Schritt ein breites Netzwerk mit verschiedenen Institutionen und Gruppierungen aufgebaut. Wir holten uns Rat von Vertreterinnen und Vertretern von Minderheiten und Randgruppen. In diesem Projekt geht es grundsätzlich darum, mit Angehörigen verschiedener Gruppierungen ins Gespräch zu kommen und von ihnen zu lernen.
Wir gingen aber auch im Rahmen unserer Lehrveranstaltung «Future Heritage» im Frühlingssemester 2024 mit rund 200 Studierenden der Frage nach, was mögliche Formen von Diskriminierung sind, wer davon betroffen ist und was die Denkmalpflege als Erbe der betroffenen Gruppen erhalten könnte. Eine ähnliche Veranstaltung wurde dann auch an der EPFL durchgeführt.
Was kam bei dieser Schwarmrecherche heraus?
Mögliche Diskriminierungen orteten wir aufgrund von Herkunft, Sprache, sexueller Orientierung, Geschlecht, Klasse, Bildungsgrad, Alter sowie körperlichen oder geistigen Beeinträchtigungen. Natürlich gibt es noch einige mehr. Wir fragten uns: Welche Objekte könnten für diese Menschen wichtig sein? Welche Bauten und Orte repräsentieren ihr Erbe? Könnten zum Beispiel Schlafstätten für Obdachlose oder andere Anlaufstellen für Benachteiligte potenzielle Schutzobjekte sein?
Wie wichtig war die Mitarbeit der Studierenden für das Projekt?
Es war ein entscheidender Schritt, die Studierenden einzubeziehen. Bei der Auswahl von potenziellen Schutzobjekten waren sie zunächst frei. Wir merkten schnell, wie sehr die Diskussionen um ein inklusiveres Erbe die junge Generation berühren. Interessant war auch, dass die Studierenden andere Bauten und Orte vorschlugen als ältere Kolleginnen und Kollegen – auch andere als ich oder meine Assistierenden. Dadurch, dass sie aus der ganzen Schweiz und auch aus dem Ausland kommen, sind sie als Gruppe diverser und wir konnten viele verschiedene Themen gemeinsam diskutieren.
Nennen Sie Beispiele für Gruppen, deren Erbe verstärkt in den Fokus rücken soll.
In meiner Professur haben zwei Doktorierende an Themen gearbeitet, die eng mit dem Projekt verknüpft sind und sich mit dem Erbe von Minderheiten auseinandersetzen. Maria Kouvari beschäftigt sich mit dem Erbe von Kindern und greift unter anderem die unrühmliche Geschichte auf, dass Kinder ihren Eltern weggenommen und in Heimen untergebracht wurden, zum Beispiel bei Fahrenden. Meist hat das Betroffene traumatisiert. Es ist wichtig, mit ihnen ins Gespräch zu kommen. Sie zu fragen, ob es für sie wichtig ist, dass zum Beispiel das Kinderheim erhalten bleibt, weil darin ihre Geschichte und auch die Geschichte ihres Unrechts erzählt wird. Und mit ihnen zu klären, inwiefern ihr Schicksal Teil der denkmalpflegerischen Begründung sein soll.

Ein anderes Beispiel für einen unterschiedlichen Umgang mit dem Erbe einzelner ist der Bau der Staumauer von Grande Dixence im Wallis. Dazu gibt es eine bereits abgeschlossene Dissertation von Rune Frandsen, welche im vergangenen Jahr auch mit der ETH-Medaille ausgezeichnet wurde. Bei der Staumauer, die Mitte des letzten Jahrhunderts errichtet wurde, steht heute noch die Arbeiterunterkunft, in der vorwiegend Schweizer Arbeiter untergebracht waren, das sogenannte «Ritz». Das Objekt ist als potenzielles Schutzobjekt inventarisiert. Auf damaligen Fotos von der Baustelle steht dieses Gebäude inmitten von Holzbaracken. Dort waren die Gastarbeiter untergebracht. Sie sind abgebrochen. Wäre die Erhaltung wenigstens einiger Holzbaracken nicht auch wichtig gewesen? Und falls nicht: Was braucht es, um die Geschichte der Gastarbeiter zu erzählen? Denn der Bau des Staudamms wäre nicht möglich gewesen ohne sie. Genau wie der Bau anderer Talsperren, Tunnel oder Infrastrukturanlagen. Wir verdanken diesen Menschen einen Teil unseres Wohlstands.
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Arbeiterunterkünfte während des Baus der Staumauer von Grande Dixence, 1955: Das weisse «Ritz»-Gebäude, Unterkunft der Schweizer Arbeiter, ist umringt von den Holzbaracken der Gastarbeiter. (Bild: Hans Gerber / ETH Bibliothek) -
Heute, wie diese aktuelle Aufnahme zeigt, steht nur noch das «Ritz». (Bild: Alessandro della Bella / Keystone)
Beim Thema Minderheiten muss man aber gar nicht unbedingt über die Landesgrenze hinausschauen. Wir haben hierzulande ja quasi überall auch Sprachminderheiten. Auch da stellen sich Fragen: Was sind Begegnungsorte italienischsprachiger Menschen in Zürich? Was ist ihnen wichtig? Besass einer ihrer wichtigsten Treffpunkte in Zürich, das über 100-jährige und mittlerweile leider geschlossene Coopi, nicht vielleicht Denkmalwert?
Was passiert nun mit den Vorschlägen für ein inklusiveres Erbe?
Mit den von den Studierenden gewählten rund 100 Objekten erstellten wir eine Datenbank. Sie soll als eine Art Spezialinventar dienen. In Zürich gibt es verschiedene Spezialinventare, beispielsweise für Schulbauten oder für jüngere Bauobjekte, die nach 1960 entstanden sind. Warum nicht ein schweizweites Spezialinventar für das Erbe von Minderheiten, Randgruppen und Menschen ohne Lobby?

Wozu dient ein Spezialinventar?
Ein Denkmalinventar ist grundsätzlich eine Sammlung potenziell schützenwerter Objekte. Die definitive Schutzabklärung erfolgt erst später. Ein Spezialinventar enthält vergleichbare Bauten einer bestimmten Zeit oder Baugattung. Es ergänzt bestehende Inventare und bietet einen guten Überblick. Das erleichtert die Auswahl und hilft bei der Frage, was die wirklich wichtigen Objekte sind, die wir erhalten sollten.
Wer bestimmt, was aus dem Spezialinventar schutzwürdig ist?
Das bestimmen die entsprechenden Stellen in den Ämtern. Es gibt in verschiedenen Kantonen und Städten auch Projekte, die die Bevölkerung stärker einbeziehen, in Basel zum Beispiel. Doch wer weiss davon und nimmt an solchen Projekten tatsächlich teil? Das scheint mir die entscheidende Frage. Deshalb finde ich es wichtig, mit Betroffenen ins Gespräch zu kommen, zum Beispiel auch mit Jugendlichen. Nicht jeder Skatespot oder jede Graffitiwand ist schutzwürdig. Aber vielleicht lohnt es sich, den einen oder die andere zu schützen, weil es Orte mit besonderer Bedeutung sind.
Wie wirkt sich das auf den Bestand geschützter Objekte aus, wenn man all jenen, die bis jetzt nicht gehört wurden, gerecht werden will?
Ein Denkmalinventar ist grundsätzlich nie abgeschlossen. Jede Generation nimmt neue Objekte jüngerer Epochen auf, interpretiert bereits geschützte Denkmäler anders oder hinterfragt sie sogar. Die Liste als Denkmal geschützter Objekte wird also laufend länger. Prozentual wächst der Anteil aber nicht unbedingt, denn es wird ja auch sehr viel gebaut. In der Schweiz sind je nach Region rund 5 Prozent des Bestandes geschützt. Inventarisiert sind natürlich mehr Objekte und auch sehr viele Ortsbilder.
Dadurch, dass man zusätzliche Gruppen berücksichtigt, wird die Liste mit den Inventareinträgen also nun noch länger?
Ich glaube nicht, dass die Liste sehr viel länger wird, wenn man das Erbe bisher marginalisierter Gruppen berücksichtigt. Viele Objekte, über die wir jetzt diskutieren, sind auch bereits inventarisiert. Die Strassenbrücke über den Rhein bei Koblenz zum Beispiel: In ihrem Inventareintrag geht es in erster Linie um die Konstruktion der Brücke, ihre historische Bedeutung und wie sie den Flussraum prägt. Aber dass die Brücke im zweiten Weltkrieg auch ein wichtiger Fluchtweg war, der Grenzübergang ein entscheidender Ort über Leben oder Tod, ist im Inventareintrag nicht vermerkt. Uns geht es darum, unterschiedliche Bedeutungsebenen von Denkmälern zu diskutieren. Manche Schutzobjekte sind vielleicht nicht nur Denkmal, sondern auch Mahnmal, ein Zeichen von Unterdrückung.
Wo würden Sie diese zusätzlichen Informationen unterbringen?
Wenn es um die tatsächliche Schutzabklärung eines Objekts geht, also wenn ein Denkmalgutachten erstellt wird, gibt es in der Regel längere Texte. Oder wenn ein Schutzobjekt instandgesetzt wird, gibt es eine begleitende Publikation, die alle Aspekte des Objektes thematisiert. Und auf vielen geschützten Gebäuden gibt es ja auch kleine Tafeln, wo draufsteht, warum das Objekt ein Denkmal ist. Auch da könnte ein Satz zur Bedeutung für einzelne Gruppen interessant sein und helfen.
50. Jubiläum des Europäischen Denkmalschutzjahrs
Im Jahr 2025 jährt sich das Europäische Denkmalschutzjahr von 1975 zum 50. Mal. Unter dem Motto «Eine Zukunft für wessen Vergangenheit?» wird dieses Jubiläum in der Schweiz mit vielfältigen Veranstaltungen begangen. Ziel ist es, das baukulturelle Erbe von Minderheiten, Randgruppen und Menschen ohne Lobby zu beleuchten und eine inklusive Erinnerungskultur zu fördern.
Die Organisation und Koordination der Aktivitäten übernimmt die Arbeitsgruppe «Denkmalschutzjahr 2025» des ICOMOS Suisse in Zusammenarbeit mit Partnerinnen wie der ETH Zürich, der EPFL und dem Netzwerk Kulturerbe Schweiz (vormals NIKE).
Verschiedene Veranstaltungen richten sich an eine breite Öffentlichkeit:
- 5. April bis 14. September 2025: externe Seite Ausstellung im S AM Schweizerisches Architekturmuseum, Basel: Was war werden könnte: Experimente zwischen Denkmalpflege und Architektur Vernissage am 4. April 2025 um 19 Uhr
- 13. und 14. September 2025: externe Seite Europäische Tage des Denkmals - mit verschiedenen Aktionen, Veranstaltungen und Führungen. Unter dem Thema «Architekturgeschichten» werden zum Beispiel historische Orte ihre Türen öffnen und Einblicke in die Baukultur bieten.
- Herbst 2025: Ausstellung zum Thema im ZAZ Bellerive in Zürich
Was entgegnen Sie Kritikerinnen und Kritikern auf die Frage, warum es denn noch mehr geschützte Gebäude und Orte braucht und dazu auch noch Schandflecke wie Arbeiterbaracken?
Wir sind auch nicht der Meinung, dass jedes Objekt, das an unrühmliche Vergangenheiten erinnert, geschützt werden muss. Aber manchmal braucht es einen Schandfleck, um die ganze Geschichte zu erzählen. Die sogenannten «unbequemen Baudenkmäler» sind wichtige Mahnmale, auch für künftige Generationen. In Deutschland gibt es einige davon und wir erleben ja leider gerade, wie wichtig sie sind. In der Schweiz gibt es ebenfalls einige eher «schwierige» Inventarobjekte, zum Beispiel die Arbeiterunterkünfte der SBB in Zürich. Oder Bahnhöfe, die im zweiten Weltkrieg Ankunftsorte von Verfolgten oder Deportationsstätten waren. Es gibt geschützte Friedhöfe, zum Beispiel in Göschenen. Dort erinnert unter anderem ein sogenanntes «gewolltes» Denkmal an die 199 Menschen, die beim Bau des Eisenbahntunnels im 19. Jahrhundert tödlich verunglückten. Baudenkmäler sind dagegen «ungewollt». Sie erlangen ihre Bedeutung erst im Laufe der Zeit und werden nicht extra errichtet, um an ein Ereignis zu erinnern. Sie tun das eher indirekt.

Abgesehen von einem baukulturellem Erbe, das inklusiver ist als heute: Was soll sich bis zum Denkmalschutzjahr in 50 Jahren in der Praxis sonst noch geändert haben, damit Sie sagen können: «Wir haben unsere Hausaufgaben gemacht»?
Ich denke, wir sollten uns bemühen die Schutzobjekte grundsätzlich ganzheitlicher zu betrachten. Auch der Erhalt und die Wiederverwendung von Baustoffen und klimafreundliches Bauen werden in Zukunft eine stärkere Rolle spielen. Nachhaltigkeit ist nur leider kein Schutzkriterium der Denkmalpflege. Das würde einiges ändern.
Inwiefern?
Das ist ein provokativer Vorschlag, den ich mal auf einer Podiumsdiskussion im Landesmuseum Zürich gemacht habe: Die Denkmalpflege wählt nicht mehr die 5 bis 10 Prozent der Objekte aus, die geschützt werden, sondern im Hinblick auf die unglaubliche Ressourcenverschwendung im Bauwesen die 5 bis 10 Prozent der Objekte, die keinen oder nur einen sehr geringen Wert haben. Natürlich war das nicht wirklich ernst gemeint, denn die institutionelle Denkmalpflege hat auch so schon zu viel zu tun. Und der nachhaltige Umgang mit dem Gesamtbestand ist auch wohl eher eine gesamtgesellschaftliche Ausgabe als die der Denkmalpflege.
Früher war es so, dass die Denkmalpflege wertvolle Objekte ausgewählt hat, die dann besonders behutsam erhalten werden. Der Rest des Bestandes ist umgebaut und an neue Bedingungen angepasst worden. Heute scheint es leider so, dass alles, was die Denkmalpflege nicht auswählt, abgerissen wird. Sie entscheidet also indirekt auch über Abbrüche. Das ist für eine Institution, die grundsätzlich der Erhaltung verpflichtet ist, natürlich ein Problem.

Silke Langenberg ist Professorin für Konstruktionserbe und Denkmalpflege am Departement Architektur der ETH Zürich. Sie ist Leiterin des Projektes «A Future for whose Past? The Heritage of Minorities, Fringe Groups and People without a Lobby», welches ihre Professur in Kooperation mit ICOMOS Suisse anlässlich des 50. Jubiläums des Europäischen Denkmalschutzjahrs initiiert hat. Das Projekt wird vom Bundesamt für Kultur unterstützt und soll den Aufbau eines grösseren Forschungsnetzwerkes zu diesem Thema fördern.
Literaturhinweis
Dissertation von Rune Frandsen: Shadow Territory and Secondary Infrastructures: The Hidden Landscapes of Temporary Labor at the Grande Dixence (1950—1965)
externe Seite Dissertation von Maria Kouvari: Dissonant Heritage of Care, Children’s Towns in Postwar Greece
Hess R, Kasap O, Langenberg S: Das Erbe von Minderheiten / The Heritage of Minorities, Kritische Berichte, Bd. 52 Nr. 1 (2024). DOI: externe Seite 10.11588/kb.2024.1
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