Mathematiker von Welt

Michel Liès, den CEO von Swiss Re, zog es bereits als jungen Mathematiker hinaus in die weite Welt. Für den Schweizer Rückversicherer ist er seit 30 Jahren auf dem internationalen Parkett tätig.

Vergrösserte Ansicht: Cover Globe 4/2013

Dieser Artikel erschien in Globe, Ausgabe 4/Dezember 2013.

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150 Jahre Swiss Re – wie fühlt es sich an, Jubiläums-CEO des weltweit zweitgrössten Rückversicherers zu sein? «Ich bin stolz und sehr glücklich, diese Position erreicht zu haben», sagt Michel M. Liès, der seit über 30 Jahren für die Firma arbeitet und im Februar 2012 den Chefposten übernommen hat. Es sei eine besondere Anerkennung – gerade in einem Unternehmen, dessen Erfolg auf Vertrauen und Nachhaltigkeit beruhe.

SwissRe-Chef Michel Liès
«Als Mathematiker fand ich die Vorstellung, mit wissenschaftlichen Analysen ein erfolgreiches Geschäftsmodell schaffen zu können, immer schon faszinierend.»Michel Liès, CEO von Swiss Re

Wenn es darum geht, zu erklären, warum Risikomanagement so bedeutend ist für unsere Welt, ist der gebürtige Luxemburger in seinem Element: «Als Mathematiker fand ich die Vorstellung, mit wissenschaftlichen Analysen ein erfolgreiches Geschäftsmodell schaffen zu können, immer schon faszinierend.» Das Geschäft jeder Versicherungsgesellschaft ist es, mit Vertrauen umzugehen, das auf mathematischen Formeln beruht. Charakteristisch für einen Rückversicherer ist die internationale Ausrichtung. Und international tätig zu sein war für Liès schon immer ein Traum: «Als ich nach dem Studium nach Brasilien reiste, habe ich viele Ingenieure kennengelernt, die auf der ganzen Welt Autobahnen und Brücken bauten. Da bedauerte ich es fast, Mathematiker zu sein.» Doch das Rückversicherungsgeschäft eröffnete ihm die Perspektive, sein Fach mit einer internationalen Dimension zu verbinden.

Liès leitete unter anderem Divisionen in Lateinamerika und Europa. Dann war er rund sechs Jahre lang als Chef von Swiss Re Client Markets für alle Kundenbeziehungen zuständig. Neben seiner Muttersprache Französisch spricht er fliessend Englisch, Deutsch, Italienisch, Portugiesisch und Spanisch. Wie wichtig sind diese Sprachkenntnisse neben der «Weltsprache» Mathematik?

«Mathematik ist eine internationale Sprache. Aber sie hat auch ihre Tücken», sagt der Swiss Re-CEO. Man dürfe nicht daran glauben, dass unser Planet nur den mathematischen Gesetzen und Modellen gehorcht. «Mathematik vermag die Fakten gut zu beschreiben, doch ebenso zentral ist in unserer Industrie die Wahrnehmung der Leute.» Denn letztlich schliessen Menschen nur Versicherungen ab, wenn sie befürchten, dass sie von einem bestimmten Ereignis betroffen sein könnten. Und die Wahrnehmung von Risiken hängt vom kulturellen Kontext ab. Das belegt eindrücklich eine grossangelegte Studie, in der die Swiss Re anlässlich des Jubiläums 22 000 Menschen in 19 verschiedenen Ländern befragt hat. So fürchten sich beispielsweise die Menschen in vielen lateinamerikanischen Ländern vor allem vor Kriminalität, während sich die Menschen in Europa um die globale Wirtschaftssituation Sorgen machen. Wie sehr die Wahrnehmung vom subjektiven Empfinden geprägt ist, zeigt auch die Tatsache, dass in Nordamerika 22 Prozent der Befragten angeben, im vergangenen Jahr einmal gehungert zu haben. In Indien dagegen waren es nur 19 Prozent.

Die Differenz zwischen Wahrnehmung und Realität eröffnet Versicherungsgesellschaften unter Umständen auch Opportunitäten, etwa dann, wenn jemand ein Risiko höher einschätzt, als es tatsächlich ist, und er bereit ist, dafür entsprechend mehr zu bezahlen. Aber diese Perspektive zahlt sich für Versicherungsgesellschaften langfristig nicht unbedingt aus. «Langfristig müssen wir daran arbeiten, dass sich Wahrnehmung und Realität treffen. Unsere Glaubwürdigkeit hängt davon ab, dass wir sinnvolle Projekte realisieren und für die Gesellschaft tatsächlich etwas leisten», sagt Liès.

Dass sich kurz- und langfristige Sichtweise unterscheiden, zeigt sich auch bei Katastrophen. Wenn Versicherungen nach schlimmen Überschwemmungen oder Erdbeben fast nichts bezahlen müssen, wird dies von den Finanzmärkten zwar vielleicht positiv aufgenommen. Doch das ist eine sehr kurzfristige Betrachtung. Denn wenn die Geschädigten keinen Versicherungsschutz geniessen, bedeutet das auch, dass die Versicherungen in der betroffenen Region keine Geschäfte machen. So hat eine Analyse der Swiss Re gezeigt, dass die wirtschaftlichen Schäden bei Katastrophen im Durchschnitt nur zu 20 bis 25 Prozent gedeckt sind. In gewissen Regionen liegt die Rate nahe bei null Prozent. Entsprechend gross ist das Marktpotenzial.

«Um die Märkte besser mit Versicherungsleistungen zu versorgen, können wir zwei Wege einschlagen», erklärt Liès, «wir können passiv abwarten, bis alle Menschen der Mittelklasse angehören und sich private Versicherungsleistungen leisten können. Oder wir entwickeln Konzepte und Produkte für neue potenzielle Kundensegmente, zum Beispiel Regierungen.» Gleichzeitig müssten für jene, die sich eigentlich keine Versicherung leisten können, Mikroversicherungslösungen entwickelt werden. Um diesen Weg zu gehen, gründete Swiss Re vor einigen Jahren die Abteilung Global Partnerships.

Als Chairman Global Partnerships hat Michel Liès während zweier Jahre mit Regierungsbeamten gesprochen, um ihnen Versicherungsinstrumente näherzubringen. «In meinen Gesprächen mit Finanzministern über Versicherungen habe ich festgestellt, dass die entsprechenden Kenntnisse oft gering waren», sagt er rückblickend. Die Gespräche hätten nach und nach gefruchtet. So kauften etwa Mexiko und der US-Bundesstaat Alabama Versicherungsleistungen. Und zwar nicht nur für die Vermögenswerte des Staates, sondern auch für individuelle Güter ihrer Einwohnerinnen und Einwohner. Denn diese Regierungen hätten realisiert, dass sie nach einer Katastrophe einspringen müssen, wenn die Menschen alles verlieren.

Grundsätzlich ging es bei diesen Gesprächen aber weniger um einzelne Geschäfte als vielmehr darum, das Bewusstsein für den Umgang mit Risiken zu schärfen. Als einen der grössten Erfolge in diesem Zusammenhang bezeichnet der Swiss Re-CEO, dass sich das US-Finanzministerium entschieden hat, einen Chief Risk Officer zu ernennen. Der hat die Aufgabe, die Hauptrisiken des Landes zu erfassen und Szenarien zu entwickeln, wie das Land mit diesen Risiken umgehen soll.

Wenn die Swiss Re in der Welt auftritt, klingt im Namen immer auch die Schweiz mit an. Nachhaltigkeit, Vertrauen und Innovation – die Werte, die für Versicherungen zentral sind, werden oft auch mit der Schweiz assoziiert. So ist es bestimmt kein Zufall, dass sich Zürich zu einem der weltweit wichtigsten Zentren für Versicherungen entwickelt hat. Hinzu kommt das Bildungsangebot, das Liès als «fantastisch» bezeichnet. Und natürlich die Möglichkeiten der Zusammenarbeit in der Forschung. So gehört die Swiss Re zu den Gründungspartnern des Risk Center der ETH Zürich.

«Eine Unternehmung kann sich noch so stark global positionieren. Sie wird nie so international sein wie eine Universität und nie so viele junge Talente am Puls der Zeit haben wie eine Hochschule», erklärt der CEO das Engagement. Anlässlich des Jubiläums hat die Swiss Re Foundation, die Stiftung des Unternehmens, diese Forschungspartnerschaft um weitere fünf Jahre erneuert. Auch hier geht es laut Liès um Nachhaltigkeit: «Das Engagement bei der ETH verursacht kurzfristig zwar Kosten, doch unterstützt es uns, weiterhin langfristig orientiert zu bleiben.»

Zur Person

Michel Liès hat 1974 sein Mathematikstudium an der ETH Zürich abgeschlossen und kam vier Jahre später zur Swiss Re. Zunächst war der gebürtige Luxemburger für die lateinamerikanischen Märkte tätig, von 2000 bis 2005 leitete er die Division Europe, bevor er als Leiter von Swiss Re Client Markets die Verantwortung für sämtliche Kundenbeziehungen weltweit übernahm. 2011/2012 war Liès Chairman Global Partnerships und widmete sich dem Aufbau langfristiger Beziehungen mit Vertretern von Regierungen und NGO. Seit dem 1. Februar 2012 ist er CEO der Rückversicherungsgesellschaft.

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