Doch kein sicherer Ort

Bis anhin nahmen Geologen an, dass Bhutan ein relativ sicherer Ort ist, der vor grossen Erdbeben, die andere Regionen des Himalajas durchschüttelten, geschützt ist. Doch nun müssen die Geologiebücher umgeschrieben werden: In Flussterrassen fanden Erdwissenschaftler Hinweise auf zwei massive Beben in den letzten 1000 Jahren. György Hetényi vom Schweizer Erdbebendienst (SED) erklärt, weshalb diese Erkenntnis wichtig ist und weshalb sie Anlass zur (Vor-)Sorge sein sollte.

Vergrösserte Ansicht: György Hetényi vom Schweizerischen Erdbebendienst: "Bhutan ist doch nicht vor starken Erdbeben geschützt." (Bild: Peter Rüegg / ETH Zürich)
György Hetényi vom Schweizerischen Erdbebendienst: "Bhutan ist doch nicht vor starken Erdbeben geschützt." (Bild: Peter Rüegg / ETH Zürich)

Herr Hetényi, zusammen mit Kollegen aus Frankreich und Bhutan publizierten Sie eben ein neues Paper über die Erdbebensituation in Bhutan. Welches sind die wichtigsten neuen Erkenntnisse?
Indem wir verformte und verschobene Ablagerungen eines Flusses im südlichen Zentralbhutan analysierten, konnten wir mehrere Tausend Jahre in die Vergangenheit zurückschauen. Die Höhe und das Alter dieser Ablagerungen deuten auf zwei heftige Erdbeben von Magnitude 8 oder grösser, die im Laufe der letzten 1000 Jahre Bhutan heimgesucht haben müssen: eines um 1150 und eines um 1570 n.Chr. Diese Ereignisse hatten eine grosse Kraft und waren sehr zerstörerisch.

Wieso untersuchte das Team, das von Ihrem Kollegen Théo Berthet geleitet wurde, die Ablagerungen eines Fluss und nicht historische Quellen?
Die Paläoseismologie kann viel weiter in die Vergangenheit zurückblicken als die historische Seismologie, die sich fast nur auf schriftliche Aufzeichnungen etwa von Mönchen oder Gelehrten bezieht. Diese reichen oft nur wenige Jahrhunderte zurück. Anhand solcher Notizen ist aus der Historie Bhutans nur ein Hinweis auf ein starkes Beben bekannt. Dieses ereignete sich 1713. Die Notizen stammen von einem Augenzeugenbericht eines Kindes. Weder Ort noch Magnitude des Bebens sind bekannt. Gerade weil starke Erdbeben selten vorkommen, müssen wir Kurzzeit- und Langzeitdaten kombinieren.

Wieso sind die neuen Erkenntnisse wichtig?
Weil wir nun wissen, dass auch entlang des bhutanischen Teils des Himalajas verheerende Erdbeben von Magnitude 8 oder höher vorkommen können. Bisher gingen wir immer davon aus, dass Bhutan in einer seismischen Lücke liegt.

Wieso das?
Seit 75 Jahren, also seit wir Erdbeben mit Instrumenten überwachen, konnte für Bhutan nur ein Beben der Stärke 6,7 gemessen werden, aber kein richtig starkes. Mit unserer Studie schliessen wir aber darauf, dass sich der Bhutan-Himalaja in puncto Erdbeben gleich verhält wie der Nepal-Himalaja. Von diesem Teil des Gebirges ist bekannt, dass sehr heftige Beben vorkommen können.

Welche Folgerungen ziehen Sie aus Ihrer Studie?
Sie verändert die Interpretation der Seismizität und der Erdbebengefährdung in der Region. Wir zeigen auf, dass im gesamten Bhutan-Himalaja die Geschwindigkeit, mit der sich die Platten während der letzten paar tausend Jahre aufeinander zu bewegen, gleich gross ist wie in Nepal. Dazu muss man sich die spezielle Situation im Ost-Himalaja vor Augen führen: Südlich von Bhutan liegt das Shillong-Plateau mit einer durchschnittlichen Meereshöhe von 1600 Metern. Dort kam es wahrscheinlich 1897 zu einem starken Erdbeben. Bislang sind wir davon ausgegangen, dass das Shillong-Plateau die Erdbeben, die wegen der Kollision der indischen Platte mit der tibetischen entstehen, «abfängt», sich die Erdstösse dort also häufen. Wir nahmen deshalb an, dass Bhutan im Erdbeben-Schatten lag und das Land als relativ sicherer Ort gilt. Nun ist uns klar geworden, dass starke Beben auch am Rand des Bhutanischen Himalajas auftreten können. Sowohl die Bruchlinie entlang des gesamten Fusses des Himalaja inklusive Bhutan als auch die Bruchzone entlang des Shillong-Plateaus sind gefährlich. Bhutan kann deshalb nicht mehr als seismische Lücke respektive als sicherer Hafen bezeichnet werden.

Vergrösserte Ansicht: shillong
Geologen nahmen an, dass sich starke Erdbeben vor allem entlang des Bruchs südlich des Shillong-Plateaus konzentrieren und damit Bhutan vor verheerenden Beben schützen. (Bild: wikipedia)

Welche Konsequenzen hat dies für die Behörden Bhutans?
Die aktuellen Baunormen des Landes stützen sich ab auf Ingenieurstudien und Gefährdungseinschätzungen aus Indien. Für diese Normen wurde ein Wert für die maximal mögliche Erdbebenstärke angenommen, der viel tiefer ist als derjenige aus unserer Studie. Die Erdbebengefährdung liegt demnach viel höher als bisher angenommen. Weil der Zeitpunkt eines Bebens nicht vorausgesagt werden kann, sollte die Regierung des Landes die Richtlinien und Baunormen für erdbebensicheres Bauen in der Region aktualisieren und deren Anwendung vehementer als bisher durchsetzen. Es braucht ausserdem weitere lokale Studien, um mehr Daten zur Erdbebensituation zu erhalten, damit die Baunormen dementsprechend weiter angepasst werden können. Die Werte dürfen nicht mehr länger von den indischen Behörden übernommen werden.

Was heisst das für die Bevölkerung?
Die Bevölkerung muss besser über die Erdbebengefährdung aufgeklärt werden. Schülerinnen und Schüler sollten im Unterricht lernen, wie sie sich während und nach einem Beben zu verhalten haben und wie sie eine Rettungsaktion organisieren. Bhutan hat bereits vorbildlich damit begonnen, aber der Weg ist noch weit und die guten Absichten müssen weiterhin konsequent umgesetzt werden.

Sie und Ihr Team installierten und betrieben ein temporäres Seismometernetz in Bhutan (siehe ETH Life). Läuft es noch?
Ja, das Messnetz ist noch immer in Betrieb, um aktuelle Erdbeben aufzuspüren. Von Januar 2013 bis April 2014 betrieben wir 38 Stationen, die Daten für ein wissenschaftliches Projekt generierten. Dabei geht es um die Erforschung der Struktur der Erdkruste unterhalb Bhutans. Wir wollen wissen, wie die tektonischen Platten des indischen Kontinents und Tibets kollidieren und so den Himalaja aufbauen. Auch möchten wir die damit verknüpfte Erdbebenaktivität besser verstehen. Wir untersuchen zudem, welchen «Lärm» Erdrutsche verursachen. Aufgrund der Signale versuchen wir, Erdrutsche zu lokalisieren und deren Ausmass abzuschätzen. Langfristig möchten wir ein permanentes seismisches Beobachtungsnetzwerk in Bhutan einrichten. Das ist vor allem eine finanzielle Herausforderung: Das dazu nötige Geld können wir nicht über die normalen Kanäle beschaffen. Wir suchen deshalb derzeit nach einer massgeschneiderten anderen Lösung.

Zur Person
Der 34-jährige György Hetényi ist Oberassistent beim Schweizerischen Erdbebendienst (SED) und leitete das Projekt «GANSSER» in Bhutan. Er hat über die Entstehung und Deformation des Himalajas promoviert.

Literaturhinweis

Berthet T, Ritz J-C, Ferry M, Pelgay P, Cattin R, Drukpa D, Braucher R, Hetényi G: Active tectonics of the eastern Himalaya: New constraints from the first tectonic geomorphology study in southern Bhutan Geology, May 2014, v. 42, p. 427-430, first published on March 31, 2014, doi:externe Seite 10.1130/G35162.1

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