Lernen, das Problem zu lieben
Wie gelingt es zehn Studierenden aus unterschiedlichen Departementen, in sechs Tagen zu einem Team zusammenzuwachsen und gemeinsam ein Problem anzugehen? ETH-News begleitete eine Studentin bei der ETH-Woche 2017 zum Thema «Manufacturing the future».
Am Anfang ist alles klar. Noëmi Kaufmann, Masterstudentin der Materialwissenschaft, ist begeistert, bei der ETH-Woche 2017 vom 10. bis 15. September 2017 dabei zu sein. «Das Thema ‹Manufacturing the future› ist wie für mich gemacht», erzählt sie am Sonntag, dem ersten Tag der ETH-Woche. «Ich blicke begeistert in die Zukunft des Manufacturing und freue mich, sie mitzugestalten. Durch den Austausch im Team möchte ich in dieser Woche innovative Ideen entwickeln». Schon im Vorjahr hatte die 22-Jährige teilnehmen wollen, doch keinen Platz mehr bekommen. Diesmal, bei der inzwischen dritten Auflage der ETH-Woche, gehörte sie zu den 180 Teilnehmenden. Endlich.
Sechs Tage lang wird Kaufmann in einer Kleingruppe mit neun weiteren Bachelor-, Master- und Austauschstudierenden mehr über Fabriken, Ressourcen und Mensch-Maschine-Beziehungen lernen. Zahlreiche Exkursionen zu Unternehmen und Fachvorträge von Experten stehen neben Sportveranstaltungen und gemeinsamen Abendaktivitäten auf dem vollgestopften Programm.
Die Organisatoren haben darauf geachtet, dass die Teilnehmenden in möglichst fächer- und kulturübergreifenden Teams zusammenarbeiten. Die Studierenden sollen bei dieser Lehrveranstaltung nicht allein Fakten, sondern vor allem kritisches Hinterfragen und geistige Beweglichkeit erlernen – ganz im Sinne der Critical-Thinking-Initiative der Hochschule. So überrascht es nicht, dass die Studierenden in Noëmi Kaufmanns «Team 7» aus so unterschiedlichen Bereichen wie Informatik, Mathematik, Molekularbiologie oder den Umwelt- und Elektroingenieurwissenschaften kommen. Auch sind neben Schweizern Studierende aus Schweden, Brasilien, China, Österreich und Deutschland dabei.
Nichts geht mehr
Sechs Tage später, am letzten Tag der ETH-Woche, ist für Kaufmann und ihr Team auf einmal kaum noch etwas klar. Nur eines ist ganz sicher: Am Nachmittag müssen sie in ihrer Abschlusspräsentation eine Lösung für ein Problem im Produktionsbereich präsentieren. Nur welches Problem wollen sie lösen? Und wie?
Noch bis Donnerstagmittag war das Team überzeugt, eine spannende Fragestellung und die dazu passende Antwort gefunden zu haben. Es wollte Techniker mit Hilfe von Augmented-Reality-Brillen im Umgang mit neuen Produktionsmaschinen schulen. Die Brillen sollten vor allem älteren Arbeitnehmenden helfen, im Job zu bleiben und die Maschinen zu unterhalten und zu reparieren. Dies hätte zudem den Vorteil, dass die Maschinenhersteller keine eigenen Techniker an die Produktionsstandorte entsenden müssten. So argumentierte das Team.
Doch bei der Feedback-Runde mit Experten können sie diese von ihrer Idee nicht überzeugen. Die Experten geben zu bedenken, dass Automation und Fernwartung die Wartung von Maschinen vor Ort in Zukunft stark verändern werde. Auch hinterfragen sie die Hypothese, dass die Maschinenhersteller keine Techniker mehr entsenden wollen. Für das Team ist die Analyse der Experten niederschmetternd.
Druck wächst ins Unermessliche
Also alles zurück auf null. Der Zeitdruck, von dem Noëmi Kaufmann noch am Dienstag meinte, er helfe, fokussiert zu bleiben, wächst ins Unermessliche. Tutor Fabio Bargardi, der gemeinsam mit den anderen Tutoren für die ETH-Woche in der Begleitung von Teams geschult wurde, muss die zehn Studierenden immer wieder motivieren. Mit Erfolg. «Heute war der produktivste Tag der Woche», konstatiert Teammitglied Max Grüner, Masterstudent der Informatik, am Freitagabend.
In knapp einer Woche sind die Studierenden zu einem Team zusammengewachsen, das auch unter grösstem Druck an einem Strang zieht. Noch am Vortag hatten einige selbst das in Frage gestellt. «Es gibt in unserer Gruppe mehrere Führungspersönlichkeiten», erklärte damals Santiago Walliser, der nach einem Bachelor in Wirtschaftswissenschaften nun einen Master in Informatik machen will. «Und wenn mehrere gleichzeitig führen, funktioniert das nicht.» Um Spannung aus dem Team zu nehmen, teilte sich die Gruppe schliesslich auf und bearbeitete jeweils zu zweit oder dritt einen Teilbereich.
Eine gelungene Präsentation
Das Ergebnis kann sich sehen lassen. Als das Team 7 am Freitag um 16 Uhr auf die Bühne gerufen wird, ist die Präsentation fertig. Genauso souverän wie all die anderen 17 Teams präsentiert die Gruppe ihre Idee «Reskill». Das Konzept: Techniker, deren Arbeitsplätze in den kommenden Jahren durch zunehmend automatisierte Produktionsprozesse wegfallen, können sich weiterbilden, um gemeinsam mit Assistenz-Robotern Senioren zu betreuen. Per Augmented-Reality-Brille erlernen die Techniker einerseits den Umgang mit alten Menschen und andererseits die Funktionsweise der Roboter. Die Techniker bleiben dadurch im Arbeitsprozess, und die Betreuung der Senioren in der alternden Bevölkerung ist sichergestellt.
Auf die Frage, was sie von der ETH-Woche mitnehme, findet Noëmi Kaufmann kaum Worte. «Es war so unglaublich viel», sagt sie und erklärt dann: «Als Studentin der Materialwissenschaft hatte ich schon ein grosses Vorwissen. Ich habe daher weniger Fachliches erfahren als erwartet. Dafür habe ich gelernt, wie man an ein Problem herangeht, es immer genauer definiert und es gemeinsam im Team löst.» Ein besseres Ergebnis hätten sich wohl auch die Organisatoren nicht wünschen können. Hatte doch Projektleiter Lex Schaul zum Auftakt der Woche zu den Teilnehmenden gesagt: «Lernt die Fragen und Probleme zu lieben, statt gleich nach Lösungen zu suchen. Nur wer die entscheidenden Fragen stellt, wird auch die richtigen Antworten finden».
Die ETH-Woche 2017 in Kürze
An der ETH-Woche vom 10. bis 15. September 2017 nahmen 180 Bachelor-, Master- und Austauschstudierende statt, aufgeteilt in 18 Teams. Sie wurden unterstützt von Tutoren. Organisiert wurde die ETH-Woche 2017 von ETH Sustainability, der Stabstelle für Nachhaltigkeit an der ETH Zürich, dem Kompetenzzentrum für Materialien und Prozesse (MaP) sowie der Professur für Technologie und Innovationsmanagement.
Impressionen der ETH-Woche 2017