Mit Blick auf die Uhr

Mit ihrer Firma Adresta, die Luxusuhren mit Hilfe der Blockchain fälschungssicher macht, behauptet sich ETH-Alumna Leonie Flückiger in der männerdominierten Tech-Gründerszene und macht anderen Frauen Mut.

ETH-Alumna Leonie Flueckiger
Leonie Flückiger ist überzeugt davon, dass starke weibliche Vorbilder jungen Frauen helfen, sich in männerdominierten Berufen zu behaupten. (Bild: Daniel Winkler)

Sportlich beginnt der Tag der jungen Gründerin Leonie Flückiger. Mit Musik im Ohr joggt sie in moderatem Tempo durch die Stadt. Sie trainiert für ihren ersten Marathon. Am Handgelenk trägt sie eine Smartwatch. Nur für den Sport, wie sie lächelnd versichert. Sonst muss es eine mechanische Uhr sein – von einem Schweizer Hersteller, versteht sich. Durch ihr Studium von Mikro- und Nanosystemen weiss Flückiger die präzise Handarbeit zu schätzen, die die Herstellung eines Uhrenantriebs verlangt. Schon bevor sie mit ihrem Start-up in die Uhrenindustrie eingestiegen ist, hatte sie ein Flair für Uhren. Zum Abschluss ihres Studiums an der ETH leistete sie sich eine Armbanduhr. Für die ETH-Alumna ist die Uhr mehr als ein Modeaccessoire. Sie ist ein Symbol für das Erfolgsgefühl und die Genugtuung, ein schwieriges, technisches Studium gemeistert zu haben.

Ursprünglich war es nicht Flückigers Plan, einen technischen Studiengang zu absolvieren. Sie wollte stattdessen Kunst studieren. In ihrer Matura-Arbeit setzte sie sich mit von der Natur inspirierter Mode auseinander. Dabei studierte sie verschiedene Oberflächenstrukturen, die in der Natur vorkommen, und überlegte, wie diese auf Textilien angewendet werden könnten. Ein klassisches Beispiel aus der Bionik, die in der Natur vorkommende Phänomene untersucht und für die Technik nutzbar macht. Ihre Studienberaterin legte ihr die ETH nahe, da es dort eine Studienrichtung gibt, die sich mit Oberflächen und Materialien auseinandersetzt. Die wissbegierige Maturandin besuchte den Info-Tag und blieb an einem Posten der Materialwissenschaften hängen, an dem man einen Marshmallow in Trockeneis gefrieren konnte. Beim Erzählen glänzen die blauen Augen von Flückiger heute noch vor Begeisterung. «Dieses Erlebnis und die Aussicht, selbst im Labor etwas Praktisches machen zu können, waren schlussendlich ausschlaggebend, dass ich Materialwissenschaften an der ETH studiert habe», sagt sie. Trotzdem habe es eine Portion Mut gebraucht, als Frau an eine technische Universität zu gehen. Bereut hat sie ihre Entscheidung nicht. Obwohl das Basisjahr sehr mathematiklastig und zeitweise trocken war, begann ihr das Studium im weiteren Verlauf richtig Spass zu machen.

Der Drang zu verstehen

Gerne würde Flückiger ihr kreatives Talent in Zukunft noch mehr in ihren technischen Beruf integrieren, und sie ist sich sicher, dass dies möglich sein wird. Durch ihren Hintergrund an der ETH betrachtet sie Kunst heute aus einem völlig neuen Blickwinkel. «Mich hat schon immer alles zum Thema Optik interessiert. An der ETH habe ich gelernt, wieso wir eine Farbe als Rot wahrnehmen, warum Metall glänzt oder wie eine Camera obscura funktioniert. Die Physik hinter solchen optischen Phänomenen zu verstehen, fasziniert mich total», erzählt sie begeistert. Für ihr Masterstudium vertiefte sie sich in den Bereich Nano- und Mikrosysteme.

Zum einen setzte sie sich mit Nanorobotern auseinander, die in der Medizin zur Behandlung von Tumoren eingesetzt werden. Sie werden dem Patienten gespritzt und erkennen, wo die Tumorzellen im Körper sitzen, und bewegen sich eigenständig zur Behandlung an die betroffene Körperstelle. Aber mit der Robotik rückten auch immer mehr IT-Themen in den Forschungsbereich von Flückiger. Plötzlich gab es in der IT-Szene nur noch ein Thema: Blockchain. «Alle haben darüber
gesprochen und ich habe gar nichts verstanden. Anfangs habe ich mir gedacht, dass mein Zug schon abgefahren ist und ich die Blockchain niemals verstehen werde. Das ist erst zwei Jahre her. Dann gewann ich bei ETH Juniors das Projekt zu Blockchain. Zu diesem Zeitpunkt war mir immer noch nicht klar, wie es genau funktioniert. Ich begann, mich einzulesen. Es hat mich richtiggehend gepackt, sodass ich sogar meine Masterarbeit darüber geschrieben und schliesslich sogar das ETH-Spin-off-Label bekommen habe», erzählt die junge Gründerin. Wer hätte damals bei den ersten Gesprächen über Blockchain gedacht, dass die heute 27-Jährige einmal eine Firma gründen würde, die genau auf dieser Technologie basiert?

«Junge Frauen brauchen starke weibliche Vorbilder, die zeigen, dass es cool ist, an der ETH zu studieren, und dass sie das schaffen können.»Leonie Flückiger

Die Uhrenindustrie revolutionieren

Sinn für Business und Unternehmergeist zeigte Flückiger schon früh. Bereits während des Studiums arbeitete sie bei den ETH Juniors, einer von ETH-Studenten geführten Unternehmensberatung, die Firmen mit passenden Fachkräften von der ETH zusammenführt. Zu ihren Kunden zählten Schweizer KMU, aber auch Grossfirmen wie die Helvetia Versicherung. Diese kam mit einem Projekt auf sie zu, in dem sie die Blockchain-Technologie nutzen wollte, um mehr Sicherheit in die Uhrenindustrie zu bringen. Die Versicherungsgesellschaft hatte festgestellt, dass auf dem Second-Hand-Uhrenmarkt ein grosses Vertrauensdilemma herrschte. Oft war unklar, woher die Uhr stammte und ob sie überhaupt echt war. Ein internes Innovationsteam hatte erkannt, dass dieses Vertrauensproblem mit der Blockchain lösbar wäre. Die Idee für Adresta war geboren. 
Zusammen mit Mathew Jobin Chittazhathu und Nicolas Borgeaud aus dem Helvetia Innovationsteam gründete die ETH-Absolventin ihre erste Firma. Heute arbeiten nebst den drei Gründern bereits sieben Mitarbeiter in dem Unternehmen, das digitale Echtheitszertifikate für die Uhrenindustrie herstellt. Standorttechnisch sind sie gut aufgestellt, denn 99 Prozent aller Luxusuhren werden in der Schweiz produziert. Das ehrgeizige Ziel der Firma ist es, dass in Zukunft kein Luxusprodukt mehr ohne einen digitalen Zwilling verkauft wird. Das Echtheitszertifikat ist Teil dieses digitalen Zwillings, aber auch andere Dokumente zum Produkt wie zum Beispiel Bedienungsanleitungen oder Garantiescheine können dort abgespeichert werden. Ausserdem kann mit diesem System der rechtmässige Besitzer der Luxusgüter belegt werden. Sollte Adrestas Software zum Standard in der Industrie werden, könnten damit Fälschungen auf dem Uhrenmarkt massiv reduziert werden.

Frauen als Rollenvorbilder

Das Umfeld der Gründer, speziell die Tech-Szene, wird immer noch von Männern dominiert. Als Frau in einem technischen Beruf und als Firmengründerin ist Flückiger eher die Ausnahme als die Regel. Mit ihrem Werdegang will die sportliche CTO anderen Frauen Mut machen. Schon als Kind spielte sie Schlagzeug und war 15 Jahre im Fussball-Club. Anstatt sich von ihren männlichen Studienkollegen einschüchtern zu lassen, nahm sie sich deren Ehrgeiz und Mut zum Vorbild. Das hat sie in ihrem Leben schon weit gebracht. «Junge Frauen brauchen starke weibliche Vorbilder, die zeigen, dass es cool ist, an der ETH zu studieren, und dass sie das schaffen können», sagt sie bestimmt. Schon während des Studiums hat sie an Gymnasien die Materialwissenschaften vorgestellt, um junge Frauen dafür zu begeistern. Als Frau einen ETH-Abschluss vorweisen zu können, verschafft ihr bei Männern in der Gründerszene Ansehen, Glaubwürdigkeit und Respekt. Für sie ist es mehr ein Leistungszeugnis, auf das sie stolz sein kann. Über Netzwerke wie «We shape Tech» oder «Woman in Tech» findet sie Frauen, von denen sie lernen kann, weil sie den Weg schon vor ihr gegangen sind. Ab und zu trifft man sich zum Kaffee. Dieser Austausch ist für die junge Firmengründerin anregend und motivierend. Deswegen ist es ihr auch ein Anliegen, dass sie selbst einmal für junge Frauen ein Vorbild sein kann.

Leonie Flückiger

Die Gründerin und CTO einer Software-Firma studierte Materialwissenschaften und Nano- und Mikrosysteme an der ETH. Sport steht für sie täglich auf dem Programm, als Training für den ersten Marathon. Ihre zweite Leidenschaft ist die Kreativität, die sie gerne beim Malen oder in der Mode auslebt. Sie wohnt und arbeitet heute in Zürich.

Dieser Text ist in der Ausgabe 21/04 des ETH-​​Magazins Globe erschienen.

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