An der Grenze zwischen Physik und Mathematik
Sylvain Lacroix forscht an den Grundlagen der Physik. Das ist spannend, doch gedanklich äusserst fordernd. Der theoretische Physiker befasst sich als Advanced Fellow am Institut für theoretische Studien ITS mit anspruchsvollen Gleichungen, die nur deshalb exakt lösbar sind, weil sie sehr viele Symmetrien aufweisen.
«Das Zusammenspiel von Physik und Mathematik hat mir schon in der Mittelschule gefallen», sagt Sylvain Lacroix, der vor 30 Jahren in der Nähe von Paris geboren und dort aufgewachsen ist. «Abstrakte Dinge in der Mathematik zu lernen und zu sehen, dass sie in der Physik eindeutig umgesetzt werden: Das war etwas, das mich fasziniert hat.» Während des Studiums an der École Normale Supérieure de Lyon beschäftigte er sich besonders gern und intensiv mit physikalischen Fragen, hinter denen sehr viel Mathematik steckte, und als er ein Thema für seine Doktorarbeit wählen musste, war klar, dass es aus diesem Bereich stammen sollte. Damals entschied sich Lacroix für die Erforschung der Theorie der sogenannten integrierbaren Modelle. Diesem Thema blieb er bis heute treu.
Dass sich der Laie unter «integrierbaren Modellen» nichts vorstellen kann, leuchtet auch dem Fachmann sofort ein, und es klingt fast wie eine Entschuldigung, wenn er sagt: «Ich muss zugeben, es ist wohl nicht das einfachste und zugänglichste Gebiet der Physik.» Umso mehr gibt er sich Mühe zu erklären: «Ein Modell ist für uns eine Reihe von Gesetzen, also ein Satz von Gleichungen, die das Verhalten bestimmter Quantitäten beschreiben, zum Beispiel wie sich die Position eines Objekts im Laufe der Zeit verändert.» Ein integrierbares Modell zeichnet sich dadurch aus, dass sich diese Gleichungen exakt lösen lassen – was keineswegs selbstverständlich ist.
Schlüsselwort Symmetrie
In der heutigen Physik, wie sie beispielsweise am europäischen Labor für Teilchenphysik CERN in Genf betrieben wird, sind die verwendeten Gleichungen häufig so kompliziert, dass sie sich nur annäherungsweise lösen lassen. Diese Annäherungsmethoden funktionieren oft gut, zum Beispiel, wenn die Wechselwirkung zwischen zwei Teilchen nur schwach ist. In anderen Fällen braucht es jedoch exakte Berechnungen. Dann kommen die integrierbaren Modelle zum Zug. Doch was macht diese exakt? «Da muss ich nochmals etwas ausholen», warnt Lacroix: «Das Schlüsselwort heisst Symmetrie.» Ein Beispiele dafür ist die Symmetrie der Zeit oder des Raums: Ein Physikexperiment hat das gleiche Resultat, egal ob man es heute oder – unter gleichen Bedingungen – in zehn Tagen durchführt und ob es in Zürich oder New York stattfindet. Die Gleichung, die das Experiment beschreibt, muss also invariant gegenüber eines Wechsels des Zeitpunkts oder des Orts sein. Dies spiegelt sich in der mathematischen Struktur der Gleichung wider, sie enthält entsprechende Randbedingungen. «Haben wir genügend Symmetrien, so ergeben sich daraus so viele Randbedingungen, dass wir die Gleichung soweit vereinfachen können, dass wir genaue Resultate erhalten», erklärt der Physiker.
Mathematisch gesehen sind die integrierbaren Modelle mit ihren exakten Lösungen sehr selten. «Wenn ich eine beliebige Gleichung nehmen würde, wäre es äusserst unwahrscheinlich, dass sie diese Eigenschaft exakter Lösbarkeit hätte», erklärt Lacroix: «Doch in der Natur finden wir tatsächlich solche Gleichungen.» Einige beschreiben beispielsweise die Bewegung von Wellen, die sich in einem Kanal ausbreiten, andere das Verhalten eines Wasserstoffatoms. «Für meine Arbeit gibt es aber nicht zwangsläufig solche praktischen Anwendungen», präzisiert der Forscher: «Ich schaue mir nicht konkrete physikalische Modelle an, sondern studiere mathematische Strukturen und versuche, allgemeine Ansätze zu finden, um neue, solche exakten Gleichungen zu konstruieren.» Langfristig gesehen könnten vielleicht einige dieser Formeln eine Anwendung in der physikalischen Welt finden, andere wahrscheinlich nicht.
Nach seiner Dissertation arbeitete Lacroix drei Jahren als Postdoc an der Universität Hamburg, bis er im September 2021 nach Zürich zog. «Ich habe keine Familie, deshalb war dieser Wechsel recht einfach», sagt der Forscher. Er freut sich, dass er als Advanced Fellow nun fünf Jahre am ITS bleiben wird und sich seiner Forschung widmen kann, ohne sich schon jetzt Gedanken über die Zukunft machen zu müssen. Es sei zwar schön, als Postdoc verschiedene Länder kennenzulernen und er sei bisher gerne weitergezogen. «Aber es ist so auch schwierig, sein Leben mit einer gewissen Stabilität aufzubauen.»
Angenehme Atmosphäre
Meist arbeitet der theoretische Physiker in seinem Büro am ITS, das in einem altehrwürdigen Haus aus dem Jahr 1882 unweit des ETH-Hauptgebäudes untergebracht ist. «Ein sehr schöner Ort», meint er mit Blick aus dem Fenster auf die grüne Umgebung und die Stadt: «Ich fühle mich hier sehr wohl, ich mag das Leben in Zürich, die Atmosphäre im Allgemeinen.» In seiner Freizeit schaut er sich gern einen Film an, liest ein Buch oder trifft Freunde. «Ich gehe gern mit Leuten aus in ein Restaurant oder Café», sagt er und ist froh, dass er seine Stelle in Zürich erst nach der Lockerung der Covid-Massnahmen angetreten hat.
«Ich bin geimpft und wir sind sehr vorsichtig an der ETH, aber obwohl es noch Restriktionen gibt, kommt das Leben langsam zurück. Deshalb war es für mich leicht, auf Anhieb Kontakt zu Kollegen und Kolleginnen zu finden», sagt Lacroix. Als besonderes Privileg empfindet er das internationale Umfeld am ITS, das Forschende aus aller Welt zusammenbringt. Neben den Seminaren, in denen die Fellows ihre Arbeit präsentieren, und dem fachlichen Gedankenaustausch haben gemeinsame Ausflüge Tradition. Im Herbst 2021 war Lacroix erstmals bei einer Wanderung am Flumserberg dabei und meint: «Ich wandere sehr gern und es ist wunderbar, die Berge so nahe zu haben.»
Normalerweise sitzt er aber an seinem Pult und schreibt ziemlich abstrakte Gleichungen auf ein Blatt Papier. Ab und zu kommt ihm dabei der Computer zu Hilfe. Heutzutage würden Computer nicht nur Zahlen berechnen, erklärt er, sondern sie könnten auch abstrakte mathematische Konzepte bearbeiten, was manchmal sehr nützlich sei. Dass nur wenige Leute wirklich verstehen, was Lacroix zu Papier bringt, stört ihn nicht. «Ich habe gelernt, damit zu leben», sagt er: «Ich fühle mich in der Forschung keineswegs isoliert, zumindest nicht in der akademischen Welt.»
Quantenfeldtheorie besser verstehen
Die integrierbaren Modelle seien extrem symmetrische Modelle, erklärt Lacroix. Symmetrien spielen als Grundprinzip eine wichtige Rolle in der modernen Physik, beispielsweise in der Quantenfeldtheorie, der theoretischen Basis für die Teilchenphysik, aber auch in der Stringtheorie, von der man sich eine einheitliche Beschreibung von Teilchenphysik und Gravitation erhofft. Wird diese umfassende Weltformel ein integrierbares Modell sein? «Das wäre natürlich schön, vor allem für mich», lacht der Forscher und winkt ab: «Es wäre zu optimistisch, zu glauben, dass die endgültige vereinheitlichende Theorie der Physik so viele Symmetrien hat, dass sie völlig exakt ist.»
Auch wenn die Gleichungen, die Lacroix studiert, nicht direkt die Welt erklären, ist er trotzdem überzeugt, dass diese zu einem besseren Verständnis der physikalischen Theorien beitragen können. Mit sogenannten Spielzeug-Modellen, die besonders viele Symmetrien haben, lassen sich äusserst komplexe Gleichungen in der Quantenfeldtheorie vereinfachen. «So können wir besser verstehen, wie die Theorie funktioniert, selbst wenn diese Modelle zu naiv sind für die reale Welt», sagt Lacroix. Ihn interessieren aber vor allem auch die rein mathematischen Fragestellungen, die in den integrierbaren Modell stecken, und er gibt zu, dass ihn diese Formeln manchmal bis in die Träume verfolgen: «Es ist schwierig, das loszuwerden, woran ich den ganzen Tag gedacht habe. Aber es ist mir noch nie passiert, dass ich ein mathematisches Problem im Traum gelöst habe – bisher jedenfalls.»
Programm für Advanced Fellows
2021 startete das ETH-Institut für theoretische Studien (ETH-ITS) ein neues Programm für hochtalentierte, junge Forschende. «Damit wollen wir herausragende Persönlichkeiten - künftige Führungskräfte auf ihrem Gebiet - ans ITS holen, nachdem sie bereits einige Erfahrungen als Postdocs gesammelt haben», sagt Rahul Pandharipande, ITS-Direktor und Mathematikprofessor an der ETH Zürich. Sylvain Lacroix ist einer der ersten vier Advanced Fellows, die während fünf Jahren an der ETH arbeiten werden. Das ITS befasst sich mit der Erforschung der Grundlagen von Mathematik, theoretischen Computerwissenschaften und theoretischen Naturwissenschaften. 2013 gegründet, untersteht es direkt dem Vizepräsident Forschung und wird von Donatoren finanziert. Neben den Junior Fellows, die nach dem Abschluss ihrer Doktorarbeit angestellt werden, verbringen regelmässig international führende Professoren und Professorinnen als Senior Fellows ein Sabbatical am Institut. Die Advanced Fellows sollen eine Verbindung zwischen den jungen und den renommierten Forschenden schaffen. «Die Interaktion zwischen Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen auf all diesen verschiedenen Ebenen führt zu einem besseren akademischen Umfeld», sagt Pandharipande.