Angesichts des Klimawandels sind nachhaltige Verkehrssysteme gefragt, die dazu beitragen, den Treibhausgas-Ausstoss bis 2050 auf netto null zu senken. Aktuelle Forschungsansätze untersuchen dabei nicht nur die Technologie, sondern auch die Akzeptanz der Menschen, wie Kay Axhausen erläutert.
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Am 6. Mai 2022 nimmt das Center for Sustainable Future Mobility (CSFM) mit einem Symposium an der ETH Zürich seine Aktivitäten auf (siehe Kasten), um die Grundlagen nachhaltiger und klimafreundlicher Verkehrs- und Transportsysteme zu erforschen. Geleitet wird es von Kay Axhausen, Professor für Verkehrsplanung. Im Gespräch mit ETH-News gibt er einen Ausblick auf Herausforderungen der Verkehrs- und Mobilitätsforschung.
ETH-News: Mit welcher Perspektive wird Mobilität am neuen Center for Sustainable Future Mobility untersucht?
Kay Axhausen: Die Forschung am CSFM fokussiert auf den Verkehr sowie auf den Transport von Menschen und Gütern. Wir untersuchen disziplinenübergreifend, welche Technologien, Infrastrukturen, ökonomischen und politischen Anreize geeignet sind, um das Ziel nachhaltiger Verkehrs- und Transportsysteme zu erreichen. Zu dieser Betrachtungsweise gehören auch die Menschen, die den Verkehr erzeugen und die Systeme nutzen. Wir untersuchen auch Fragen, die sich aus dem Verkehr ergeben wie Antriebsformen, Emissionen, Preise und Politikmassnahmen. Hierzu werden wir vermehrt Synergien mit unseren Kolleginnen und Kollegen des Energy Science Centers und des Institute of Science, Technology and Policy nutzen, die hier relevante Erfahrungen haben. Bei uns stehen aber die systemischen Aspekte im Vordergrund.
Was sind die Ziele für das CSFM?
Um wirklich nachhaltige Gesamtverkehrslösungen zu erhalten, müssen wir die Sichtweisen der einzelnen Forschungsdisziplinen zu einem Ganzen zusammenführen. Das ist eine Aufgabe des CSFM. Wir schaffen ein gemeinsames Bewusstsein, Synergien sowie neue Ideen für die Gesellschaft, für Firmen im Sektor, für neue Dienstleistungen und auch für die Polik. Denn die vorhandenen Politikideen sind für sich alleine erschöpft. Dies ist einer der Hauptgründe für die heute existierende Blockade im Verkehr.
Was sind derzeit die drängenden Forschungsfragen beim Verkehr?
Das ist das Thema unseres Kick-off Events. Wir sehen drei Bereiche, in denen die Forschung noch Antworten liefern muss: Die Dekarbonisierung des Verkehrs, der aktuell grösstenteils auf fossilen Brennstoffen beruht und in der Schweiz für ca. 40 Prozent der Treibhausgas-Emissionen verantwortlich ist. Der Trend zur Digitalisierung und Automatisierung spielt eine wichtige Rolle, da er neue Angebote und technologische Lösungen möglich macht. Ob es jedoch gelingt, diese neuen Möglichkeiten so zu entwickeln und anzuwenden, dass sich das Verkehrssystem effizienter gestalten lässt, ist noch offen. Als dritter Bereich kommt hinzu, welche Infrastrukturen und Raumentwicklungskonzepte ein nachhaltiges Verkehrssystem der Zukunft unterstützen können.
Welche Verkehrsmittel gewinnen an Bedeutung, welche verlieren auf dem Weg zu nachhaltigeren und klimafreundlicheren Verkehrs- und Transportsystemen?
Das ist im Moment sehr offen, weil wir sind nicht mehr in derselben Situation wie in den 1950er-Jahren, als klar war, dass die Schweiz wie die anderen OECD-Länder auf das Auto setzte und über mehrere Jahrzehnte im grossen Stil in den Bau von Autobahnen investierte, ergänzt durch den Ausbau der Schienennetze für Eisenbahn und Trams. Heute stehen wir an einem Punkt, an dem die Entwicklung in verschiedene Richtungen gehen kann. Das hat auch mit den Lockdowns während der Pandemie zu tun, dem Zuhause-Arbeiten und dem Boom im E-Handel. Dadurch sind viele bisherige Gewissheiten über Fahrdistanzen und Flächennutzung ins Wanken geraten.
Wie sehen Sie den Zusammenhang von Verkehrs- und Siedlungsentwicklung?
Verkehrs- und Siedlungsentwicklung müssen zusammengedacht werden. Von der Flächennutzung hängt es ab, wie viele Kilometer Fahrdistanz jemand fährt, welche Verkehrsmittel benutzt werden, wie viel CO2 ausgestossen wird und welche externen Effekte entstehen, also Auswirkungen, für die niemand bezahlt oder eine Ausgleichszahlung erhält. Beim Lieferverkehr zum Beispiel hängt die Anzahl gefahrener Transportkilometer damit zusammen, wie viele Lager es gibt und wo sie stehen.
Wie sieht das im Privatverkehr aus?
Im Privatverkehr ändern sich die Fahrdistanzen je nachdem, wo die Menschen wohnen und arbeiten. Wenn sie künftig vermehrt auf dem Land wohnen und in der Stadt arbeiten, werden mehr Leute längere Strecken fahren. Wenn der Fernverkehr wächst, dürfte die Eisenbahn wichtiger werden. Wenn der Nahverkehr zunimmt, kann das E-Bike bedeutender werden.
«Als Forscher kann ich zwar wissenschaftlich aufzeigen, wie man ein Verkehrssystem verbessern könnte, aber am Schluss setzen sich die Neuerungen nur durch, wenn sie die Bevölkerung akzeptiert.»Kay Axhausen, Professor für Verkehrsplanung
In den vergangenen Jahren haben wir erlebt, wie neue, elektrische Fahrzeuge aufkommen. Welche Rolle spielen E-Autos, E-Velos und E-Scooters für ein nachhaltiges Transportsystem?
E-Autos adressieren Schwachstellen im Verkehrssystem, indem sie mittels Batterien den CO2-Ausstoss – und auch den Lärm – im Vergleich zum Benzinmotor reduzieren oder eliminieren, falls sie mit nachhaltig erzeugtem Strom geladen werden. Das E-Bike mit seiner höheren Geschwindigkeit ermöglicht weitere Fahrwege als das Fahrrad und kann Autos und Motorräder teilweise ersetzen. Der E-Scooter besetzt eine relativ kleine Anwendungslücke. Das macht seinen Markterfolg schwieriger.
Für E-Fahrzeuge gibt es neue Sharing-Systeme, bei denen die Ausleihe per Smartphone-App funktioniert. Geben E-Fahrzeuge den Mietsystemen einen Aufschwung?
Das wird von den Kosten der Fahrzeuge abhängen. In den 1950er-Jahren, als das Auto im Vergleich zu heute viel teurer war, war das informelle Teilen von Fahrzeugen viel verbreiteter. E-Autos werden tendenziell billiger und effizienter als die Verbrenner. Das setzt den Sharing-Systemen eine Grenze. Allenfalls ergeben sich bei automatischen, selbstfahrenden Autos Möglichkeiten, dass sie wie Taxis einen Teil der privaten Autos ersetzen. Umgekehrt haben Autos eine starke emotionale und statusbezogene Bedeutung, die mit geteilten Fahrzeugen schwierig zu ersetzen ist.
Heisst das, dass man nachhaltige Verkehrssysteme nicht rein technologisch erreichen kann, sondern die Menschen und ihre Gefühle berücksichtigen muss?
Absolut. Das haben wir in der Schweiz 2021 bei der Volksabstimmung über das CO2-Gesetz gesehen. Die Vorlage des Bundesrates entsprach in Vielem den Erkenntnissen der Forschung. Trotzdem wurde das Gesetz abgelehnt. Als Forscher kann ich zwar wissenschaftlich aufzeigen, welche neuen Werkzeuge, Infrastrukturen und Technologien ein Verkehrssystem verbessern könnten, aber am Schluss setzen sich diese Neuerungen nur durch, wenn sie die Bevölkerung akzeptiert.
Was heisst das für die Verkehrsforschung?
Offensichtlich finden Preiserhöhungen und Strassengebühren keine mehrheitliche Akzeptanz. Selbst wenn es ökonomische Belege gibt, dass sie einen wirksamen Ansatz darstellen, um die CO2-Emissionen des Verkehrs zu reduzieren. Folglich müssen wir in der Forschung die Auswirkungen von Massnahmen auf den Lebensstil und die Gefühle der Menschen berücksichtigen, wenn wir die Verkehrspolitik in die Zukunft führen wollen.
Wie kann die Forschung zur Verkehrspolitik der Zukunft beitragen?
Zentral ist, dass wir neue Planungs- und Politikideen testen, ob sie wirklich kostengünstiger und klimafreundlicher sind, und untersuchen, wie sie akzeptiert werden. In einem gemeinsamen Projekt haben wir mit der ZHAW und der Universität Basel ein virtuelles Mobility-Pricing-System getestet, um herauszufinden, unter welchen Voraussetzungen die Verkehrsteilnehmenden in städtischen Agglomerationen die Kosten, die sie verursachen, bezahlen. In vergleichbaren Experimenten sollten wir auch weitere Pläne testen.
Zum Schluss: Welche Bedeutung haben Visionen?
Wir brauchen umsetzbare Visionen. Eine Sache fehlt mir zurzeit: die Begeisterung für die Autobahn in den 1940-er und in den 1950-er Jahren war auch Ausdruck des Versprechens von Wohlstand, Geschwindigkeit, Freiheit und neuen Möglichkeiten. Diese Bilder von damals sind heute noch im Kopf der Autofahrenden, auch wenn sie mittlerweile zu Tausenden auf der Autobahn fahren. Heute brauchen wir neue Bilder, und ich denke, das CSFM kann umsetzbare Visionen erarbeiten, die in technischer Machbarkeit verankert sind.
Verkehrsvisionen gestern und morgen?
Center for Sustainable Future Mobility
Das Center for Sustainable Future Mobility (CSFM) ist ein 2021 neu gegründetes Kompetenzzentrum der ETH Zürich, das die Grundlagen nachhaltiger und klimafreundlicher Verkehrssysteme interdisziplinär untersucht. Offiziell eröffnet wird es am 6. Mai 2022 mit dem Symposium Sustainable Future Mobility 2022, das sich an CSFM-Mitglieder und Forschende sowie an aktuelle und potenzielle Partner aus Wirtschaft und öffentlichen Institutionen richtet.
Das CSFM ist ein Netzwerk von rund 40 Professuren aus acht Departementen und ist den Departementen Bau, Umwelt und Geomatik (D-BAUG) sowie Maschinenbau und Verfahrenstechnik (D-MAVT) zugeordnet. Die seit 2018 laufende strategische Partnerschaft der ETH Zürich mit SBB, Siemens Mobility und Amag im Rahmen der Mobilitätsinitiative, die thematisch eng mit dem CSFM verbunden ist, wird seit 2021 unter dem Dach des CSFM durchgeführt. Sie wird auch von der ETH Zürich Foundation unterstützt.
Literaturhinweis
Boulouchos B, Hirschberg S, Oswald K (eds.). Pathways to a net zero CO₂ Swiss mobility system. SCCER Mobility Whitepaper, March 2021. DOI: externe Seite 10.3929/ethz-b-000481510.