Wie gestalten wir Bildung so, dass alle die gleichen Chancen haben?

Der ETH-Doktorand Rolf Imseng stammt aus einer Arbeiterfamilie. Gemeinsam mit der ETH-Vizepräsidentin Julia Dannath und der ETH-Professorin Ursula Renold spricht er über die Hürden, die seine Herkunft mit sich bringt. Ein Gespräch über soziale Mobilität in der Schweiz.

Porträtfoto von Dannath, Renold und Imseng
Julia Dannath ist VP für Personalentwicklung und Leadership an der ETH Zürich, Renold ist Professorin für Bildungssysteme am D-MTEC und Rolf Imseng Doktorand am Departement Architektur der ETH Zürich (v.l.n.r.). (Bild: Markus Bertschi)

Rolf Imseng, Sie haben an der ETH Zürich Architektur studiert und nun mit ihrer Doktorarbeit angefangen. Sie sind der erste Akademiker Ihrer Familie. Wie war Ihr Weg an die ETH?
Rolf Imseng: Ich komme aus dem Wallis aus einer klassischen Arbeiterfamilie. Meine Mutter ist kaufmännische Angestellte, mein Vater Elektriker. Aufgewachsen bin ich grösstenteils bei meinen Grosseltern, welche stark von Landwirtschaft und Handwerk geprägt waren. Da wurde viel mit den Händen gearbeitet. Ich aber wollte das Gymnasium besuchen und Architektur studieren. Zum Glück hat mich meine Mutter auf diesem Weg enorm unterstützt.

Julia Dannath, Sie haben Abitur gemacht und studiert. Ist das typisch für Ihre Familie?
Julia Dannath: In der Generation meiner Grosseltern haben die Männer das Geld verdient, während die Frauen vorrangig für Haushalt und Familie da waren. In der nächsten Generation hatten mein Vater und meine Onkel einen akademischen Weg gewählt und all meine Tanten und meine Mutter einen nicht-akademischen. Für meine Schwester und mich war klar, dass wir studieren, genau wie unser Bruder. Das war sicherlich neu in meiner Generation. Ich war keine Überfliegerin, vor allem in der Unterstufe. Aber meine Eltern, vor allem mein Vater, der Gymnasiallehrer war, hat immer an mich geglaubt. Diese Sicherheit und die Entspanntheit, den akademischen Weg zu gehen, das haben meine Eltern mir mitgegeben.

«Globe» Eine Welt ohne Barrieren

Globe 24/03 Titelblatt

Dieser Text ist in der Ausgabe 24/03 des ETH-​​​​Magazins Globe erschienen.

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Ursula Renold, Ihr beruflicher Werdegang nahm seinen Anfang mit einer kaufmännischen Lehre. Heute sind Sie Professorin für Bildungssysteme an der ETH.
Ursula Renold: Um ehrlich zu sein, hatte ich als 15-jährige Sekundarschülerin einfach «null Bock» auf Schule. Ich wollte lieber wissen, wie das Geld funktioniert in der Gesellschaft. Es schien mir eine wichtige Bedeutung zu haben. Und so bin ich in eine Banklehre eingestiegen. Aber jede schwierige Teenagerzeit ist einmal vorbei, und ich war richtig wissenshungrig. Weil es die Berufsmatura damals noch nicht gab, habe ich die eidgenössische Matura nachgeholt. Und da ich diesen Drang nach Unabhängigkeit hatte, habe ich parallel dazu gearbeitet, auch als ich dann Volkswirtschaft, Soziologie und Geschichte studiert habe. In den 1990er-Jahren kam ich zum ersten Mal mit der ETH in Berührung. Das fand ich so spannend, dass ich zunächst als Wissenschaftlerin geblieben bin und ein Spin-off mitgegründet habe.

Ursula Renold am Tisch sitzend im Gespräch
«Die Schweiz ist das Vorzeigemodell mit der wohl ausgeklügeltsten Durchlässigkeit.»
Ursula Renold am Tisch sitzend im Gespräch
Ursula Renold

Später wurden Sie Direktorin des Bundesamtes für Berufsbildung und Technologie. Was haben Sie in diesem Amt gelernt?
Renold: Ich habe im Ausland viele schlechte Bildungssysteme gesehen. Deshalb wollte ich an die ETH zurück, um Lösungen zu generieren, wie man anderen Ländern helfen kann, und zwar mit Wissenstransfer. Aktuell begleitet meine Professur etwa dreissig Länder in der Frage, wie sie nachhaltig eine Lösung bieten können, damit alle Jugendlichen einen gerechten Zugang zu Bildung haben.

Dannath: Du siehst also das hiesige Bildungssystem als Exportschlager und möchtest es anderen Ländern anbieten?

Renold: Ich bin da ziemlich radikal. Man kann unser System nicht exportieren. Aber wir können die theoretischen Grundlagen entwickeln, um zu verstehen, was die sogenannten funktionalen Äquivalente in verschiedenen Ländern sind. Zum Beispiel, wie die Berufsbildung mit den Akteuren aus dem Beschäftigungssystem zusammenarbeitet, damit die Lehrabgängerinnen und Lehrabgänger erfolgreich in den Arbeitsmarkt integriert werden können. Nicht alle Länder haben beispielsweise Berufsverbände. Wir müssen also die Länder gut kennen und zuerst herausfinden, an welcher Stelle wir mit einer Reform ansetzen können, um etwa eine hohe Jugendarbeitslosigkeit anzugehen. Italien zum Beispiel hat eine Jugendarbeitslosigkeit von rund 25 Prozent.

Von sozialer Mobilität spricht man, wenn die soziale Positionierung im Leben nicht davon abhängt, in welche Familie man geboren wird. Was behindert die soziale Mobilität?
Renold: Der Hauptfaktor ist, dass die meisten Länder ein Bildungssystem haben, das nicht durchlässig ist. Da, wo man als junger Mensch einspurt, da kommt man nicht wieder raus.

Rolf Imseng am Tisch sitzend im Gespräch
«In meiner Familie konnte mich niemand in die akademische Welt einweisen.»
Rolf Imseng am Tisch sitzend im Gespräch
Rolf Imseng

Gehört die Schweiz dazu?
Renold: Nein! Die Schweiz ist das Vorzeigemodell mit der wohl ausgeklügeltsten Durchlässigkeit, die es überhaupt gibt. Ich kenne kein einziges anderes Land, das in dieser Hinsicht so gut aufgestellt ist. Deshalb sage ich allen Eltern, dass es egal ist, wo ihr Kind nach der obligatorischen Schulzeit startet. Hauptsache, diese schwierige Teenagerphase wird erfolgreich bewältigt. Danach stehen so viele Optionen offen. Auch in den Daten sieht man, dass wir eine gute sozioökonomische Durchmischung von Studierenden an Hochschulen haben. In der Schweiz machen zwei von drei Jugendlichen eine Berufslehre. Dank der Berufsmatura und den 1996 geschaffenen Fachhochschulen haben wir in der Schweiz eine hohe soziale Mobilität. Seit 2012 haben wir mehr Abschlüsse an den Fachhochschulen als an den Universitäten. Das ist auch so gewollt, weil die Schweizer Wirtschaft dies braucht.

Rolf Imseng, welche Hürden haben Sie erlebt?
Imseng: Ich wollte gerne an die ETH wegen ihres Ansehens in der Architekturwelt. Aber ich war schnell demotiviert, weil ein Studium in Zürich eine grosse finanzielle Belastung darstellt. Zum Glück habe ich ein Stipendium einer Stiftung erhalten, mit welchem ich mich zu Beginn über Wasser halten konnte. Trotzdem war manchmal nicht klar, wie ich das nächste Semester finanzieren sollte. Eine ganz andere Hürde war, dass mich keiner in der Familie in die akademische Welt einweisen konnte. Meine Familie hat auch nie verstanden, weshalb ein Studium – zuhören, lernen und im Falle der Architektur auch «basteln» – anstrengend sein kann.

Dannath: Das ist sicherlich nicht einfach, sich in der eigenen Familie als Aussenseiter zu fühlen.  Auch beim Studium oder am Arbeitsplatz ist die Zugehörigkeit ein ungemein wichtiges Thema. Mir ist es ein Anliegen, dass alle Menschen an der ETH dieses Gefühl erleben. Dabei hilft unter anderem ein gemeinsames Ziel. Uns alle an der ETH treibt an, mit Bildung die nächste Generation zu begleiten, Wissen zu schaffen und dies in die Gesellschaft zu tragen – das verbindet.

Julia Dannath am Tisch sitzend im Gespräch
«Bildungsgerechtigkeit bedeutet: Ich bringe meine Kompetenzen und meine Vision mit. Dann kann ich wählen, was ich machen möchte.»
Julia Dannath am Tisch sitzend im Gespräch
Julia Dannath

Kann eine Aussenseiterrolle nicht auch mit Freiheit verbunden sein? Es gibt keine grossen Fussstapfen, in die man treten muss.

Imseng: Ja, das stimmt, gerade in der Architektur. Mein Vater ist kein Architekt, den ich enttäuschen könnte. Ein Architekturstudium an der ETH ist sehr fordernd und ich habe es geschafft – für mich.

Renold: Ich kenne dieses Gefühl von der Matura, die ich berufsbegleitend gemacht habe. Die Selbstzweifel, die Reibung mit mir und meinem Umfeld. Aber diese Erfahrung ist ein grosser Vorteil für deine spätere Karriere. Du weisst, was du kannst. Du hast Strategien, wenn es schwierig wird. Und du bist ein Vorbild für andere.

Dannath: Genau, wir brauchen solche Beispiele, um zu zeigen, dass es eine Vielfalt gibt, dass die Mobilität in alle Richtungen geht. Bildungsgerechtigkeit bedeutet: Ich bringe meine Kompetenzen mit und habe eine Vision. Und dann kann ich wählen, was ich machen möchte.

Vorbilder sind auch beim First Generation Network Zurich wichtig.

Imseng: Ja, und deshalb engagiere ich mich. Bereits als Teaching Assistant habe ich immer sehr offen über meine Herkunft gesprochen, weshalb Studierende aus den unteren Semestern oft das Gespräch mit mir suchten. Als dann letztes Jahr das First Generation Network Zurich gegründet wurde, hat mich das sofort interessiert. Wir alle sind die erste Generation Akademikerinnen und Akademiker in in unseren Familien. Wir treffen uns einmal im Monat, tauschen uns aus, helfen einander. Ich gebe meine Erfahrung gerne weiter und beantworte Fragen, welche die Familien der Studierenden nicht beantworten können. Wie läuft ein Doktorat ab? Was ziehe ich zum Vorstellungsgespräch an?

Dannath: Da macht ihr sehr wertvolle Arbeit. Weil das Netzwerk aus der Community kommt, ist die Hemmschwelle besonders gering und ermutigt viele Mitglieder, sich auszutauschen.

Renold: Wenn wir die Vorbilder sichtbar machen, dann fördern wir damit die soziale Mobilität.

Zu den Personen

Julia Dannath ist Vizepräsidentin für Personalentwicklung und Leadership der ETH Zürich.

Ursula Renold ist Professorin für Bildungssysteme am Departement Management, Technologie und Ökonomie der ETH Zürich.

Rolf Imseng ist Doktorand am Departement Architektur der ETH Zürich und Mitglied des externe Seite First Generation Network Zurich.

Dannath: Genau, und da gibt es sogar sehr prominente Beispiele: Joël Mesot, der ETH-Präsident, ist zum Beispiel auch der erste Akademiker in seiner Familie. Vorbilder werfen immer auch die Frage nach Identifikation auf. Wir identifizieren uns über eine gemeinsame Herkunft, über gemeinsame Werte, über gemeinsame Erfahrungswelten. Rolf, du machst ganz andere Erfahrungen als deine Herkunftsfamilie. An der ETH haben wir darum das zentrale Angebot beim Nationalen Zukunftstag angepasst. Nur noch ein Drittel der Plätze ist für Kinder von ETH-Angehörigen reserviert. Damit laden wir aktiv Kinder ein, deren Familie keinen Bezug zur ETH haben. Wir wollen eine Durchmischung schaffen. In diese Richtung müssen wir stärker denken, um noch mehr Vorbilder zu schaffen, um den Horizont zu erweitern.

Imseng: Wenn ich höre, dass ihr Kinder aus Familien mit einem nicht-akademischen Hintergrund an die ETH holt, dann lacht mein Herz. Das wäre als Kind genau mein Traum gewesen.

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