Volle Fahrt voraus
Kein Spielzimmer, sondern Ausbildungsstätte: Im Eisenbahnbetriebslabor der ETH Zürich lernen nicht nur Studierende ihr Handwerk, sondern auch Lernende der SBB.
«Es freut mich, dass ihr alle pünktlich seid – trotz Schneetreiben», begrüsst Michael Fürer seine Klasse. Er muss es ja wissen. Der Zugverkehrsleiter hat in seinem Berufsalltag auch schon erfahren, wie das Wetter den öffentlichen Verkehr lahmlegen kann. Er arbeitet im Stellwerk Zürich Oerlikon und dirigiert dort drei Tage die Woche die Züge bis nach Effretikon oder Niederglatt. Die restliche Zeit bildet er angehende Zugverkehrsleitende aus. Heute ist er mit seiner Klasse an der ETH Zürich auf dem Campus Hönggerberg. Im Gebäude, in dem auch das Institut für Verkehrsplanung und Transportsysteme untergebracht ist, befindet sich im Keller das Eisenbahnbetriebslabor. Ein Raum ohne Tageslicht, der die Augen eines jeden Bähnlers dennoch zum Leuchten bringt.
Mehr als ein halber Kilometer Gleise schlängelt sich über die Modelleisenbahnanlage. Platz genug für Manuela Marty, Jonas Bühler und die anderen acht Lernenden, sich auszutoben und Fallbeispiele aus ihrem Berufsalltag zu üben und durchzuspielen. Das Ziel des heutigen Besuchs an der ETH ist, das Hintergrundwissen zu festigen und den Normalbetrieb zu üben. Störungen kommen später. «Das würde über das Ziel hinausschiessen», sagt Michael Fürer. Er ist mit seiner Klasse heute erst das vierte Mal im Eisenbahnbetriebslabor. Die Anlage gehört der ETH Zürich, doch die Verantwortlichkeiten für den Unterhalt teilt sich die Hochschule mit der SBB und mit Siemens.
Manuela und Jonas kommen gerne ins Eisenbahnbetriebslabor. «In der Schule ist es leider recht trocken», meint Manuela. Und Jonas ergänzt: «Im Berufsalltag dürfen wir natürlich noch nichts alleine machen.» Hier aber dürfen sie eigenhändig hebeln, schalten, klicken – und dabei Fehler machen. «Hier müssen die Fehler passieren, die bei der Arbeit nicht passieren dürfen. So ist der Lerneffekt am Grössten», sagt ihr Lehrer Michael Fürer. «Erst wenn sie immer wieder dieselben Fehler machen würden, wäre ich unzufrieden.» Er ist insgesamt sehr nachsichtig mit seinen Schülern. Sie sind ja alle noch blutige Anfänger. Derzeit im dritten Lehrjahr als Kauffrau oder Kaufmann öffentlicher Verkehr mit Schwerpunkt Bahn, machen sie seit letztem Sommer erste Berührungen mit dem späteren Beruf des Zugverkehrsleiters. Durch den gewählten Schwerpunkt im dritten und letzten KV-Lehrjahr wird sich die Zusatzausbildung zum Zugverkehrsleiter von acht auf sechs Monate reduzieren – wenn sie die überhaupt in Angriff nehmen wollen. Manuela und Jonas mussten nicht lange überlegen. Die beiden sind sich jetzt schon sicher, dass sie nach Abschluss ihrer Lehre das halbe Jahr noch anhängen. «Mir gefällt das Technische am Beruf», sagt Manuela und dreht den Schalter, um eine Weiche zu stellen. «Den ganzen Tag vor dem Bildschirm sitzen und Briefe schreiben, das liegt mir nicht.»
Kein Computerspiel
Manuela arbeitet am Bahnhof Landquart bei der Rhätischen Bahn, Jonas in der Betriebszentrale Ost der SBB, die sich am Flughafen Zürich befindet. Doch heute für die Fahrplansimulation sind die beiden in Zetthausen stationiert, jener fiktive Bahnhof der Modellanlage, der das zweitälteste Stellwerk hat – eines aus den 1940er-Jahren. Die Bedienung einer solchen Anlage wird später nicht Teil ihres Alltags sein, obschon es in der Schweiz noch immer vereinzelt Bahnhöfe mit solchen elektromechanischen Stellwerken gibt. Der Grossteil der Strecken wird heute hochmodern gesteuert, alles elektronisch vom Computer aus. Musste früher der Bahnbetriebsdisponent mit aller Kraft einen grossen Hebel in Bewegung setzen, um über Seilzüge draussen eine Weiche zu stellen, werden heute Weichen, Barrieren und Signale mit ein paar Mausklicks gelenkt. Deshalb geht es bei den Ausbildungstagen an der ETH auch immer darum, dass die Auszubildenden ein Gefühl dafür entwickeln, was draussen passiert, wenn sie am Computer hantieren. «Jeder rote Strich auf dem Bildschirm ist ein Zug mit Passagieren», betont Fürer. «Das ist kein Computerspiel.» Anhand der Modellanlage sehen die Lernenden ganz direkt, was sie bewirken. Nicht nur die Antriebe tönen beim Weichenstellen, auch die Relais-Schaltungen im Nebenraum klicken und klacken. Die Modellanlage fördert das Bewusstsein für den eigenen Aktionsradius.
Jonas, der in der Betriebszentrale Ost am Flughafen arbeitet, sieht dort im Zehnminutentakt Flugzeuge starten, nicht aber Züge ein- und ausfahren. Selbst der Hauptbahnhof Zürich wird vom Flughafen aus gesteuert. In einigen Jahren schon wird es nur noch vier SBB-Betriebszentralen geben: Neben jener am Flughafen noch je eine in Lausanne, Olten und Pollegio. Diese Entwicklung dürfte manchem ehemaligen Bahnhofvorstand, der einst auf dem Perron mit der Kelle die Züge dirigierte, das Herz brechen.
Doch der Modellbahnhof Zetthausen ist bedient – von Manuela und Jonas. Eigentlich ist schon bald Mittag an diesem Ausbildungstag, doch Fürer hat die grossen Bildschirmuhren, die unübersehbar überall an der Wand hängen, auf 5.55 Uhr gestellt. In fünf Minuten beginnt die einstündige Fahrplansimulation. Fürer könnte die Uhren auch schneller laufen lassen. Doch das ist nur im Training für Fortgeschrittene sinnvoll. Für die Lernenden ist das normale Tempo schon schnell genug. In einer Stunde werden die sechs Personen- und zwei Güterzüge gut 20 Minuten Verspätung haben – zumindest jene, die überhaupt noch fahren.
Doch Fürer ist sehr zufrieden und vor allem in seinem Element. Jedes Missgeschick, jeden falschen Handgriff sieht er als Chance für die Lernenden, wieder einen wichtigen Aspekt zu lernen – und nicht mehr zu vergessen. Deshalb verzichtet er im Anschluss auf eine detaillierte Auswertrunde, bei der jeder Handgriff nachträglich analysiert wird. Viel lieber interveniert er im Moment und lässt Manuela und Jonas viel Zeit, die nächsten Schritte zu überlegen. Dass dabei die Pünktlichkeit im wahrsten Sinne des Wortes auf der Strecke bleibt, ist für ihn nebensächlich. Fürer schafft den bemerkenswerten Spagat zwischen seinen beiden Funktionen: heute der nachsichtige und geduldige Lehrer, morgen der gewissenhafte und geschäftige Zugverkehrsleiter.
Gefühl für Disposition
Manuela und Jonas sind gefordert. Sie werden von Fürer angefunkt. Auch das ein wichtiger Teil ihres Berufs, auch in Zeiten von Smartphones. Ein Zug endet ausnahmsweise in Zetthausen. Auf welchem der drei Gleise soll er abgestellt werden? Diese Situation haben die Auszubildenden am Vormittag geübt; sie war eine der vier Fallstudien. Michael Fürer und die anderen beiden Ausbildnerinnen haben in Kleingruppen verschiedene Fragestellungen durchgespielt. Zetthausen ist ein besonders kniffliger Fall: Weil der Bahnhof keine Unterführung hat, gibt es keine ideale Lösung für die Aufgabenstellung. Denn wo immer ein Zug steht, muss damit gerechnet werden, dass Passagiere einsteigen wollen. Ohne Unterführung kann es immer zu gefährlichen Situationen kommen, wenn ein Zug auf einem Gleis abgestellt werden muss und auf den anderen Gleisen der Normalbetrieb weitergeht. «Die Modellanlage vermittelt ihnen das Gefühl für die Disposition», sagt Fürer. Deshalb sind die Figürchen in der Modelllandschaft nicht einfach eine nette Dekoration für Liebhaber, sondern machen die Situation plastisch. Schliesslich dreht sich alles um die Sicherheit von Passagieren und Personal. Sich dieser Verantwortung bewusst zu werden, gehört auch zur Ausbildung. «Der Beruf des Zugverkehrsleiters ist ein Nullfehlerjob», sagt Fürer.
Ein dicker Ordner mit allen Fahrdienstvorschriften sorgt dafür, dass auf den Schienen alles reibungslos abläuft. Die Ordner der Lernenden sehen noch ziemlich druckfrisch aus – im Gegensatz zum Exemplar ihres Lehrers. Noch suchen sie zaghaft nach Regeln und Symbolen. Der Umgang mit dem Register will geübt sein und deshalb kommt Fürer immer wieder der Satz über die Lippen: «Schaut in eurem Ordner nach.» Vorkauen bringt seine Sprösslinge nicht weiter. Doch auch Fürer selber muss dranbleiben und die Vorschriften kennen. «Die Lernenden spornen mich zusätzlich an, à jour zu bleiben», sagt er. «Lernende ausbilden hält jung.»
Die erste Simulationsrunde ist vorbei. Fürer will wissen, wie es seinen Schülern ergangen ist. Es stellt sich schnell heraus, dass es zu Verwirrungen kam, nicht weil zu wenig, sondern weil zu viel kommuniziert wurde. «Ihr müsst nur das wirklich Wichtige kommunizieren», fasst Fürer zusammen. Was interessiert einen Bauarbeiter, was einen Lokomotivführer? Das sind Fragen, die sich ein Zugsverkehrsleiter stellen muss.
Auch wenn bei der Simulation einiges schiefgelaufen ist, Fürer findet bei der Nachbesprechung viele lobende Worte. Fehler bezeichnet er als «schöne Situationen, bei denen ihr viel lernen konntet». Er weiss seine Lernenden zu motivieren. Und voller Tatendrang nehmen sie die nächste Simulation in Angriff.