Nicht nur Schokoladenseiten
Der breiten Öffentlichkeit war er vor allem als «Schokoladen-Professor» bekannt. Doch dem frisch emeritierten ETH-Professor Erich Windhab ging es um weit mehr als um Genuss. Er hat sich auch der globalen Ernährungssicherheit und Nachhaltigkeit angenommen.
Auf seinem Schreibtisch steht ein Spielzeug, das er sogleich vorführt: ein schwebender Kreisel, der sich dank sich überlagernden Magnetfeldern zentriert und stabilisiert. Erich Windhab, frisch emeritierter ETH-Professor für Lebensmittelverfahrenstechnik zieht Parallelen zur Forschung: «Wissenschaftler müssen Spielwiesen haben und bereit sein, ins Niemandsland zu treten und es dort ein Weilchen auszuhalten.» Für Windhab ist das die Voraussetzung für Innovation. «Würden wir die Spielwiesen ausser Acht lassen und zu unternehmerisch optimieren, würden wir schleichend erblinden.» Das klingt nach einem hartgesottenen Grundlagenforscher. Doch weit gefehlt.
Dem Lebensmittelingenieur liegt viel an der Übersetzung seiner Forschung in die Praxis. Bereits während seiner Doktorarbeit am Institut für Mechanische Verfahrenstechnik und Mechanik an der Universität Karlsruhe gründete er eine Firma. Damals alles andere als üblich. «Aber ich hatte eine gute Umgebung mit guten Doktorvätern, die das ermöglicht haben», erinnert sich Windhab. Und es sollte nicht die einzige Firma bleiben, die er gründet.
Von Publikationen und Patenten
Das unternehmerische Umfeld war auch ein Hauptgrund, weshalb Windhab 1992 dem Ruf der ETH Zürich folgte. «Der neu gegründete Technopark hatte gelockt, überhaupt die Rahmenbedingen hier», schwärmt Windhab. Und er hat auf diesem soliden Fundament erfolgreich gebaut. Neben unzähligen wissenschaftlichen Publikationen hat der Ingenieur auch mehr als 70 Patente mit ETH-Bezug veröffentlicht. «Ein forschender Ingenieur hat nicht nur sein wissenschaftliches Publikum, sondern auch sein Industriepublikum.»
Windhab ist fasziniert von der Patentwelt, insbesondere von der Präzision und Ausgefeiltheit der Sprache, mit der Erfindungen in Worte gefasst werden. Noch immer schreibt er selbst an Patenten mit. Er hat auch als Parteigutachter vor dem Royal Patents Court in Grossbritannien oder dem Bundesgerichtshof in Deutschland bei Patent-Nichtigkeitsstreits Firmen vertreten.
Seine Bemühungen um den Wissenstransfer haben sich auch oft in Preisen niedergeschlagen. Den European Food Tec Award bekam er beispielsweise 2003 für ein neues Verfahren zur Kristallisation von Schokolade. Das entwickelte Verfahren stellt zuerst eine Kristallsuspension mit massgeschneiderten Kristallkeimen aus Kakaobutter her, mit der dann die Schokoladenmasse vor dem Giessvorgang angeimpft wird. Dadurch glänzt die Schokolade länger, weil sie nicht so schnell grau von Fettreif wird.
Ein anderes Beispiel ist der Internationale Nestlé-Innovationspreis, den er 2006 für eine neuartige Technologie zur Herstellung von Glacé erhielt. Der Jahresumsatz mit einem auf dieser Technologie basierenden Produkt belief sich später auf über 500 Millionen US-Dollar. «Das machte Furore», sagt Windhab. «Die Erfolge am Markt sind eine wichtige Bestätigung für unsere Arbeit im Labor.» Auch die gewonnenen Preise für sein Lebenswerk widerspiegeln den grossen Erfolg seiner Übersetzungen von Forschungsergebnissen in die Industrie. Einen besonderen, persönlichen Stellenwert hat für ihn die Blaise-Pascal-Medaille, die er 2003 als erster Lebensmittelingenieur von der Europäischen Akademie der Wissenschaften (EAS) verliehen bekommen hat.
Der Brückenbauer
Dass der renommierte Forscher mit internationalem Ruf in den Schweizer Medien als «Schokoladen-Professor» seine Auftritte hatte, stört ihn nicht. Windhab sagt schmunzelnd: «Man könnte mich im Schokoladenkontext auch als den bezeichnen, der zur Dynamik scherströmungsinduzierter Strukturbildung in polymorph kristallisierenden Triglycerid-Schmelzen Neues gefunden und angewendet hat. Dann wäre die interessierte Zuhörerschaft allerdings deutlich kleiner und auf Wissenschaftler beschränkt gewesen.» Windhab weiss, dass Genuss- Nachhaltigkeits- und Gesundheitsaspekte von Lebensmitteln einen insbesondere auch emotionalen Stellenwert haben und somit in einer breiten Öffentlichkeit auf vermehrtes Interesse stossen.
Für Windhab ist die Schokolade auch eine Brücke zu Erzeugerländern von Kakao, die zum Teil zu den ärmsten Ländern der Welt gehören. Wichtige Erfahrung in diesem Bereich konnte Windhab bald nach seiner Berufung an die ETH sammeln. «Ich bekam die einmalige Gelegenheit bei der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen mitzuarbeiten.» Die Schweiz hat traditionellerweise den Vorsitz einer Fachgruppe im Bereich Schokolade und Kakao, deren Präsident er wurde. Die erste Sitzung fand 1997 in Bern mit rund 130 Länder-Delegationen statt.
Windhab musste dazu eine neue Sprache lernen: die der Diplomatie. Dabei galt es die wissenschaftliche Faktensprache und die langatmig minutiös beschreibende Sprache der Patentanwälte beiseite zu lassen. Eine neue faszinierende Welt tat sich ihm auf.
Windhab erzählt: «Es herrschte eine Konsensuskultur. Es gibt keine globale Gesetzgebung, welche die strikte Durchsetzung von Beschlüssen des Codex Alimentarius bewirken liesse. Wenn man aber im offiziellen nationalen Auftrag im Konsensus unterschreibt, dann ist es eine Frage der Ehre, sich daran zu halten.» Er musste lernen, in sehr kleinen Schritten zum Ziel zu kommen. Es dauerte beispielsweise mehr als zehn Jahre, um fünf Prozent anderer tropischer Fette ausser Kakaobutter in die Schokoladenrichtlinie des Codex aufzunehmen. «Diese Nuance war für Erzeugerländer und deren Kakaobauern wirtschaftlich von elementarer Wichtigkeit», betont Windhab.
Der Nachhaltigkeit verpflichtet
Die globalen Problemstellungen im Ernährungssystem beschäftigten Windhab und werden ihn weiter beschäftigen. Dass die menschliche Ernährung beide Bereiche – Gesundheit und Umwelt – gleichermassen massiv bestimmt, macht für Windhab sein Forschungsgebiet besonders spannend. «Falsche Ernährung oder nicht vorhandene Nahrung sind eine Seite des Problems», sagt Windhab. «Die Art, wie Lebensmittel zum Teil erzeugt werden, führt zu wachsenden Umweltproblemen, wenn nicht nachhaltig gewirtschaftet wird. Wir verhalten uns, als hätten wir drei Planeten, aber wir haben nur einen!».
Der Nachhaltigkeitsbereich war bei Windhabs Forschung immer mit dabei. «Heute betonen wir ihn sinnvollerweise verstärkt. Man ist diesbezüglich lauter geworden und sichtbarer», sagt Windhab. «Auch weil der globale Nachhaltigkeitsgedanke mehr und mehr ins Denken einer breiteren Bevölkerung einfliesst.»
Im Nachhaltigkeitsbereich hat Windhab auch Spin-offs mitinitiiert. Das jüngste Kind unter Windhabs Start-ups ist Groam, das geschäumte Kunststoffe aus Bioabfällen entwickelt. Vor zwei Jahren ist das Spin-off Micropow seinem ETH-Team entsprungen. Dieses produziert beispielweise eingekapselte Farben und Aromen, die bei der Produktherstellung und Lagerung konsumentengerecht erhalten bleiben und sich bei der Speisenzubereitung oder beim Verzehr entfalten. Damit können Inhaltsstoffe gespart werden, weil sie bei Produktion und Lagerung nicht verloren gehen.
Doch am meisten Furore macht im Moment Planted. «Das Jungunternehmen entwickelt Fleischersatz auf Basis von Erbsen und heimst verdientermassen einen Preis nach dem anderen ein», sagt Windhab. Mittlerweile beschäftigt Planted um die 120 Mitarbeitende. Windhab ist stolz auf diese Firmengründung zweier seiner Doktoranden und deren Erfolg: «Was mich besonders freut: Wir konnten an der ETH mit Planted trotz Covid-19-Restriktionen einen fulminanten Start realisieren und weitere Alumni meiner Gruppe fanden inzwischen bei Planted die Fortsetzung ihres wissenschaftlichen und professionellen Werdegangs»
Windhab lebt mit den Start-ups mit. «Die Gründer und Gründerinnen sind oder waren Familienmitglieder meines Labors», sagt Windhab. «Bei uns im Labor herrschte immer eine grossfamiliäre Atmosphäre.» Die Wertschätzung seinen Mitarbeitenden gegenüber ist gross. Er lebt den Gemeinschaftsgedanken. «Nach der zweiten, dritten Generation an Doktorierenden habe ich realisiert, dass meine Alumni die besten Multiplikatoren guter Entwicklungsideen sind.» Das hat auch seine Einstellung zur Lehre weiter aufgewertet. «Die richtigen Leute auszubilden und auf den für sie richtigen Weg zu bringen, hat den grösseren Impact für die Gesellschaft als das, was ich selbst bewegen kann.»
Mit seinen Leuten Zeit zu verbringen, darauf legt er viel Wert. «Der Kaffee am Morgen und das Bier am Abend, das sind die kreativsten Plattformen», ist Windhab überzeugt. Auch jetzt während der Pandemie versucht er den Austausch, so gut es die Situation zulässt, bewusst zu pflegen.
Bloss nicht versumpfen
Auch mit anderen ETH-Professuren pflegt Windhab den Austausch. In gemeinsamen Projekten hat er am Thema Mangelerscheinungen in Entwicklungsländern gearbeitet. So haben die Wissenschaftler beispielsweise Eisen-, Vitamin-A- und/oder Jod-haltige Präparate in Reis oder Salz eingekapselt. «Ernährungstechnisch waren das sehr gute Produkte, aber oft wirtschaftlich ohne stattliche oder anderweitige Unterstützung nicht selbsttragend», bedauert Windhab. «Sie waren teilweise um Faktoren zu teuer für lokale Märkte.» Doch er gibt sich nicht geschlagen. «Das ist für mich nach wie vor eine der grössten technologischen Herausforderungen. Wir müssen hinsichtlich einer gesunden und nachhaltigen Ernährung, welche sich die Menschen auch in Entwicklungsländern leisten können, unter anderem auch die Prozesstechnik neu denken.»
Wo er seine Akzente nach der Emeritierung genau setzt, ist noch in der Planungsphase. Ideen hat er viele. «Wenn ich alles zusammenzähle, was mich reizt, dann wäre es deutlich zu viel. Ich muss noch eine gewisse Auslesedisziplin entwickeln», sagt Windhab. «Es soll keine diffuse Wolke sein, sondern die Dinge zusammenbringen, die ich gemacht habe und herausfordernde weiterführende Perspektiven bietet.» Fest steht: Eine Priorität liegt bei der Familie. «Da habe ich doch etwas Nachholbedarf nach einer erfüllten beruflichen Zeit.»
Auch das Musikmachen wird ihn weiterhin begleiten. Auch hier taucht er in verschiedene Welten ein: Philharmonie, Jazz oder Rock. Genauso wie er spielend zwischen der wissenschaftlichen Denke, der Patentwelt und der Konsensusfindung der UNO jongliert hat. «Die Abwechslung hilft, nicht in der einen Welt zu versumpfen.» Ein Schokoladen-Professor, der sich gerne von mehr als einer Seite zeigt.