Mathematik, Diplomatie und die Kunst des Verhandelns
Michael Ambühl wird nach neun Jahren als ETH-Professor für Verhandlungsführung emeritiert. Ein Blick zurück auf die bewegte Karriere des ehemaligen Staatssekretärs, der angetreten ist, die Praxis in die Theorie umzusetzen.
Zwei Institutionen haben das Leben von Michael Ambühl geprägt: Die ETH Zürich und das Eidgenössischen Departement für auswärtige Angelegenheiten (EDA). An der ETH verbringt er insgesamt 14 Jahre als Student und Doktorand der angewandten Mathematik sowie als Professor für Verhandlungsführung. Im diplomatischen Dienst der Schweiz sind es gar 31 Jahre, davon 9 Jahre als Staatssekretär, der höchsten Position in der Bundesverwaltung.
Wer den gebürtigen Berner, der Ende Januar emeritiert wird, verstehen will, kommt an dieser eigenwilligen Kombination von Diplomatie und Engineering nicht vorbei. Denn Ambühl hat nie aufgehört, die Welt durch die Brille des mathematisch versierten Problemlösers zu sehen. Weder als Verhandler, der die Interessen der Schweiz in zahlreichen heiklen Dossiers vertrat, noch als Professor, der 2013 antrat, seine praktischen Erfahrungen in die Theorie umzusetzen.
Die Geheimwaffe
Die Liste der Verhandlungen, an denen Michael Ambühl beteiligt ist, liest sich wie eine Chronologie der Schweizer Aussenpolitik: Bilaterale I, Bilaterale II, Fazilitation der Verhandlungen über das iranische Atomprogramm, Mediation zwischen Armenien und der Türkei, Steuerstreit zwischen den USA und der Schweiz. Die Aufzählung liesse sich noch weiter fortsetzen.
Es gibt in der Schweiz wohl niemanden, der so viel diplomatische Verhandlungserfahrung hat wie Ambühl. «Wunderwaffe», «Trumpfkarte», «Joker» oder gar «Usain Bolt der Aussenpolitik» sind einige der Superlative, zu welchen sich Schweizer Medien über die Jahre hinweg hinreissen liessen.
«Das ist alles Unsinn», kommentiert Ambühl diesen Lobgesang. Patentrezepte für erfolgreiche Verhandlungen gebe es nicht, aber eine durch Erfahrung und Theorie fundierte Methode sehr wohl. Ausserdem sei auch eine Portion Glück notwendig, um komplexe Verhandlungen erfolgreich abzuschliessen.
«Ein Verhandlungsproblem gut zu strukturieren, ist bereits die halbe Miete.» Professor Michael Ambühl
Verhandlungsengineering
Ambühl zückt ein Blatt Papier und skizziert einen Entscheidungsbaum. In das oberste Kästchen schreibt er Brexit. «Erst wenn wir ein schwer überschaubares Problem wie den Austritt Grossbritanniens aus der EU in seine essenziellsten Bestandteile zerlegen, werden Lösungen sichtbar». Hier spricht der Systematiker aus Ambühl. Verhandlungen sind für ihn eine Frage des richtigen Engineerings.
«Ein Verhandlungsproblem gut zu strukturieren, ist bereits die halbe Miete.» Im Falle des Brexits führt diese Methode schnell zur Frage, wie die Zuwanderung im beidseitigen Interesse geregelt werden kann. Um die oftmals diffusen Verhandlungspositionen klar zu formulieren, bedient sich Ambühl gerne mathematischer Formeln wie dieser: Übermässige Einwanderung = Mittelwert aller EU/EFTA-Länder + zweifache Standardabweichung, die mit einigen länderspezifischen Koeffizienten multipliziert wird.
Auf diese Weise wird ein emotionales Thema auf objektiv ermittelbare Werte herunter gebrochen. Der manchmal vorhandenen Emotionalität nationaler und internationaler Politik wird die Vernunft der Zahlen entgegengesetzt.
Ambühl ist sich der Grenzen dieser Methode sehr wohl bewusst. «Wenn es zwischen Akteurinnen und Akteuren grosse politische Differenzen oder Wertekonflikte gibt, helfen auch die elegantesten Formeln nichts.» Zudem scheitert die Anwendung formaler Methoden oft daran, dass sich die Verhandlungsparteien nicht darauf einigen können, was die wichtigsten Probleme sind. Lassen sich AkteurInnen aber auf den formalen Ansatz ein, kann dieser zu überraschenden Lösungen führen. So geschehen zum Beispiel beim Landverkehrsabkommen zwischen der Schweiz und der EU, das Ambühl als einen grossen Verhandlungserfolg bezeichnet.
«Ein guter Verhandler braucht Verständnis für sein Gegenüber und muss sich in die andere Seite hineindenken können.»Professor Michael Ambühl
Empathie und sprachliche Finesse
Doch Verhandlungen lassen sich nicht ausschliesslich auf kühle Arithmetik reduzieren. Es benötigt auch eine gehörige Portion Empathie: «Ein guter Verhandler braucht Verständnis für sein Gegenüber und muss sich in die andere Seite hineindenken können.» Nur wer diesen Riecher hat, kann die Schmerzgrenze des Gegenspielers erahnen.
Zudem gilt es, Differenzen auf konziliante Art zu umschreiben. «Die Kunst ist, Nein zu sagen, ohne die Tür zuzuschlagen. Das erfordert sprachliche Finesse und vielleicht auch eine Portion Humor», so der ETH-Professor. Wie bei anderen Berufen stelle sich auch hier mit der Erfahrung eine gewisse Gelassenheit und Sicherheit ein. Man bekomme ein besseres Gefühl dafür, wann ein Abschluss möglich ist.
Doch ist dieser einmal erzielt, gibt es selten Anlass für Triumphgefühle. Ambühl nennt dies das Paradox des Verhandlers: «Man ist froh über den Abschluss, fragt sich aber sofort, ob man zu konziliant war». Letztlich wisse man nie genau, was der Verhandlungspartner bereit zu geben gewesen wäre. Jede Verhandlung findet hinter diesem Schleier der Ungewissheit statt.
Von der Praxis zur Theorie
Als Michael Ambühl 2013 an die ETH berufen wird, konzentriert er sich zunächst auf die Lehre. Sein Kurs Einführung ins Verhandlungsengineering findet rasch Zulauf aus anderen Departementen. Im Frühjahrssemester 2021 besuchen 650 Studierende die Vorlesung, eine der grössten an der ETH Zürich.
Weitere Akzente setzt Ambühl vor allem im Dialog zwischen Wissenschaft und Politik. 2015 organisiert er erstmals einen Ausbildungskurs für neue Schweizer Parlamentarierinnen und Parlamentarier, an dem neben ETH-Forschenden auch Professorinnen und Professoren andere Schweizer Hochschulen mitwirken.
Seit 2016 ist er ausserdem der Direktor der neu gegründeten Swiss School of Public Governance an der ETH. Diese richtet sich an Führungskräfte in der öffentlichen Verwaltung und bietet Weiterbildungsprogramme zur guten Regierungsführung an. Durch sein Netzwerk schafft es der ehemalige Staatssekretär immer wieder, hochkarätige Vortragende wie die beiden Alt Bundesräte Micheline Calmy-Rey und Pascal Couchepin oder den aktuellen Schweizer Bundeskanzler Walter Thurnherr an die ETH zu holen.
Dialog zwischen Wissenschaft und Politik
2021 ist Ambühl massgeblich an der Gründung des von der ETH Zürich und der Universität Genf gemeinsam getragenen Labors für Wissenschaft in der Diplomatie in Genf beteiligt. «Das Labor», so der ETH-Professor, «soll wissenschaftliche Erkenntnisse und Methoden für die diplomatische Lösung internationaler Konflikte bereitstellen.»
Besonders erfreut ist Ambühl ausserdem über die Rolle, die seine Mitarbeiterin Daniela Scherer und er bei der Lösung eines externe Seite Konfliktes um den Ausbau der Wasserkraft in der Schweiz spielten. Bundesrätin Simonetta Sommaruga zog den ETH-Professor als Mediator bei. Ambühls umsichtige Vermittlungsversuche trugen dazu bei, dass ein Kompromiss möglich wurde. Dabei blieb er seinem Engineering-Ansatz treu: «Erst als wir uns auf objektive Kriterien zur Bewertung von Projekten einigen konnten, kam Bewegung in die Gespräche.»
Alles Leben ist Problemlösen
Als philosophisch interessierter Laie orientiert sich Ambühl an Karl Poppers berühmten Diktum, alles Leben sei Problemlösen. Ganz im Sinne eines Ingenieurs, reicht es ihm nicht, Probleme nur zu beschreiben, er will auch dazu beitragen, sie zu lösen.
Unter seinen Mitarbeitenden am Lehrstuhl für Verhandlungsführung gilt Ambühl als engagiert und integrativ. «Er motiviert, bindet uns stark ein und will wissen, was wir zu aktuellen Fragen denken», erklärt die Physikerin Daniela Scherer, die bei Ambühl doktoriert hat und nun gemeinsam mit ihm forscht. Sie sieht in ihm den klassischen republikanischen Staatsdiener, dem es nicht um Politik, sondern um die Res Publica, die öffentliche Sache, geht.
«Ich will der Politik wissenschaftlich fundierte Entscheidungsgrundlagen liefern und keine politische Person sein.» Professor Michael Ambühl
Einfluss auf die europapolitische Debatte
Ambühl scheut sich nicht, zu konkreten politischen Fragen Stellung zu nehmen. So zum Beispiel auch bei den Diskussionen zu den Beziehungen zwischen der Schweiz und der EU. Dabei gehe es ihm vor allem darum, die Debatte aus wissenschaftlicher Sicht zu bereichern. «Ich will der Politik wissenschaftlich fundierte Entscheidungsgrundlagen liefern und keine politische Person sein», betont der ETH-Professor, der mit Medienauftritten sehr zurückhaltend ist.
Ambühl skizziert erneut, dieses Mal eine Tabelle mit 15 Feldern. Ganz unten links notiert er «Verhandlungsabbruch ohne Begleitmassnahmen», ganz oben rechts «Interimsabkommen mit der EU». «Wir haben in einem Gutachten zuhanden des EDA fünf Handlungsalternativen verglichen und analysiert, in wie weit sie den Interessen der Schweiz entsprechen. Ein Verhandlungsabbruch ohne Plan B war für uns keine gute Option.»
Heute wissen wir, dass der Bundesrat dieser Empfehlung nicht gefolgt ist. Doch auch ohne Verhandlungsabbruch wäre es schwierig gewesen, ein für beide Seiten akzeptables Ergebnis zu erzielen. Ambühl zu Folge gab nicht genug Verhandlungsmasse: «Da institutionelle Fragen im Vordergrund standen, hätte die Schweiz primär nur geben müssen. Hätte die EU der Schweiz neue Abkommen im Bereich Strom, Gesundheit und Forschung angeboten, wäre es leichter gefallen, das Geben und Nehmen in ein Gleichgewicht zu bringen.»
Trotz der allgemeinen Ratlosigkeit, wie es mit den Beziehungen zwischen der Schweiz und der EU weitergehen soll, bleibt Ambühl optimistisch: «Ich bin zuversichtlich, dass es Bilaterale III geben wird.» Wie es dazu kommen könnte, skizzierten Daniela Scherer und er im August letzten Jahres in einem einen dreistufigen Plan.
Drei Generationen an der ETH
Michael Ambühl wird der ETH auch nach seiner Emeritierung erhalten bleiben. Er wird weiterhin in einigen Weiterbildungsprogrammen als Gastdozent wirken und will den Aufbau des Labors für Wissenschaft in der Diplomatie in der einen oder anderen Weise unterstützen.
Und auch nach seinem Abgang wird es an der ETH einen Ambühl geben: «Mein Sohn forscht im Bereich Verkehrsplanung. Er ist nach meinem Vater und mir die dritte Generation, die an der ETH promoviert hat», sagt der ETH-Professor. «Wir Ambühls mögen die ETH.»