Japans Abkehr vom Pazifismus

Seit vier Jahren wehrt sich Japans Regierung entschlossen gegen die zunehmend offensive Aussenpolitik Chinas. Kürzlich deutete Premierminister Abes Kabinett die Verfassung für mehr militärischen Freiraum Japans um. ETH-News sprach mit Politikwissenschaftler Michael Haas über die Abkehr Japans von seiner pazifistischen Sicherheitspolitik.

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Der Territorialstreit zwischen Japan und China um die Senkaku-Inseln im Ostchinesischen Meer birgt Eskalationspotential. (Archivbild von 2012: Yomiuri Shimbun / Keystone)

ETH-News: Herr Haas, der Konflikt zwischen China und Japan hat sich in den letzten Monaten zugespitzt. Am Shangri-La Dialog in Singapur Ende Mai griff Japans Premier Shinzo Abe China verbal ungewohnt explizit an. Er bekräftigte seine Absicht, die Senkaku-Inseln, die gleichzeitig von Japan und China beansprucht werden, notfalls mit Gewalt zu verteidigen. Erleben wir gerade den Beginn eines Kalten Krieges zwischen Japan und China?
Michael Haas: Sicher sind Abes Aussagen ernst zu nehmen und der Konflikt um die Inseln im ostchinesischen Meer birgt ein gewisses Eskalationspotenzial. Aber die Kalte-Krieg-Analogie, genauso wie die Erste-Weltkrieg-Analogie, greifen zu kurz: Noch gibt es keine verhärteten Bündnisblöcke, und auch ein Wettrüsten fand bislang nicht statt.

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Michael Haas. (Bild: Tim Wendel / ETH Zürich)
Langfristig wird Chinas Armee die Schlagkraft von Japans Selbstverteidigungskräften übertreffen. Das bereitet Japan Sorge.Michael Haas

Obschon China sein Militärbudget in den vergangenen 15 Jahren vervierfacht hat?
Was wir derzeit beobachten, ist eine Modernisierung und Expansion der Streitkräfte Chinas und Japans – insbesondere im maritimen Bereich, unter anderem im Ausbau der U-Boot-Flotten. Aber das stark zyklische Element eines Rüstungswettkampfes, mit einem Aktion-Reaktions-Muster, blieb bislang aus.

Wie sieht denn das Kräfteverhältnis zwischen Chinas und Japans Streitkräften derzeit aus?
Japan hat im Vergleich zu China sehr gut ausgebildete Streitkräfte – oder Selbstverteidigungskräfte, wie diese in Japan heissen. Zudem hat Japan durch die enge Zusammenarbeit mit den USA einen technologischen und operativen Vorsprung. Doch quantitativ sind die Streitkräfte Chinas denjenigen Japans klar überlegen. China hat seine Militärausgaben in den letzten 25 Jahren um jährlich durchschnittlich zehn bis zwölf Prozent erhöht. Langfristig wird Chinas Armee die Schlagkraft von Japans Selbstverteidigungskräften also sicher übertreffen. Das bereitet nicht nur Japan Sorge, sondern auch anderen ost- und südostasiatischen Staaten wie Singapur, Australien und Südkorea.

Per Kabinettsbeschluss hat Shinzo Abe den Verfassungsartikel 9 umgedeutet, der Japan seit dem Zweiten Weltkrieg zum Pazifismus verpflichtet. Weshalb diese Neuausrichtung?
Der Konflikt mit China um die Inseln im ostchinesischen Meer seit 2010 ist sicher ein wichtiger Grund dafür. Zugleich hat Chinas militärische Expansion und offensive Aussenpolitik zu einer Stärkung der nationalkonservativen Kräfte in Japan geführt. Diese wollen sich von der militärischen Selbstbeschränkung lösen, die sich Japan nach dem Zweiten Weltkrieg infolge der Schuldanerkennung auferlegte. Eine Gruppe von «Neokonservativen» um Shinzo Abe verfolgt das Ziel, Japan zurückzuführen zu einer regionalen Grossmacht, die auch militärisch handlungsfähig ist. Abe hat den Konflikt um die Inseln bewusst genutzt, um diese Vision politisch voranzutreiben.

Und dies gegen den Willen des Volkes. In der Folge der Neuinterpretation des Artikels kam es im ganzen Land zu Demonstrationen.
Für eine Verfassungsänderung hätte Abe eine Zweidrittel-Mehrheit im Parlament gebraucht und ein Referendum vor dem Volk durchführen müssen. Es zeichnete sich ab, dass er damit nicht durchgekommen wäre. Deshalb hat sich sein Kabinett für eine Neuinterpretation des bestehenden Artikels entschlossen. Auch diese Lösung wird aber in den letzten Befragungen nur noch von 34 Prozent der Wahlbevölkerung unterstützt. Viele befürchten nun eine Revitalisierung eines japanischen Militarismus und die Verabschiedung von der pazifistischen Tradition.

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Übersicht über Japans territoriale Dispute (Quelle: CSS / ETH Zürich)

Was steckt genau hinter der Neuinterpretation des Artikels 9, mit dem sich Japan nach dem Zweiten Weltkrieg zum Pazifismus verpflichtete?
Es geht um das Recht der kollektiven Selbstverteidigung. Jeder Staat hat laut UN-Charta das Recht, sich selbst zu verteidigen oder sich an der Verteidigung von Bündnispartnern zu beteiligen. Japan hat sich die Möglichkeit zur kriegerischen Unterstützung eines Bündnispartners in Artikel 9 selbst abgesprochen. Durch die Neuinterpretation ist Japan zum ersten Mal in der Lage, sich an der Verteidigung eines Bündnispartners, zum Beispiel den USA, zu beteiligen. Oder auch an einer durch den UN-Sicherheitsrat legitimierten multilateralen Operation. Japans Selbstverteidigungskräfte könnten also ausrücken, selbst wenn das Land nicht direkt angegriffen wird.

Teil der neuen Doktrin ist auch die Aufhebung des Verbots von Rüstungsexporten, was in der japanischen Bevölkerung ebenfalls scharf kritisiert wurde.
Die Gesetzesänderung ebnete den Weg für eine Reihe von neuen Rüstungskooperationen mit den USA, aber auch mit Frankreich, Grossbritannien und Australien. Zum Beispiel will Japan gemeinsam mit Australien ein neues U-Boot entwickeln.

Auch mit Indien verhandelt Japan derzeit an einer neuen strategischen Partnerschaft. Weshalb?
Hier liegt das Interesse vor allem an Indiens strategisch wichtiger Lage. Die meisten Erdöllieferungen nach Japan führen durch den Indischen Ozean und das südchinesische Meer. Sollte China Japans Versorgung mit Erdöl unterbinden wollen, so könnte Indien Druck auf China ausüben.

Das hört sich ein wenig an, als würde Japan derzeit an einer antichinesischen Koalition schmieden?
Natürlich fürchtet sich China vor einer Umzingelung durch ein US-geführtes Bündnis – gerade auch weil die USA und Indien ihre Kooperation in den vergangenen Jahren gestärkt haben. Von einem «antichinesischen» Bündnis sind wir aber trotzdem noch weit entfernt. Dafür haben Japans potenzielle Bündnispartner zu unterschiedliche Interessen und verfolgen eigene Agenden im pazifischen Raum.

Die USA sind historisch der wichtigste Bündnispartner Japans und betreiben mehrere Militärbasen vor Ort. Wie wurde die Neuausrichtung der japanischen Sicherheitspolitik in Washington aufgenommen?
Die USA unterstützen Shinzo Abes Kurs. Sie sind ihm dafür dankbar, dass er den Handlungsspielraum seiner Streitkräfte erweitert, das militärisches Engagement Japans in Ostasien verstärkt und China entschlossen entgegentritt. Nun sollen die «Defense Guidelines», welche die militärische Kooperation zwischen den USA und Japan regeln, bis Ende Jahr überarbeitet werden. Die neuen militärischen Freiräume Japans könnten darin langfristig verankert werden. In Washington gibt es aber auch die Befürchtung, dass die USA durch ein zu aggressives Verhalten von Abes Regierung ungewollt in einen territorialen Konflikt mit China hineingezogen werden könnten.

Michael Haas ist Forscher im Team «Globale Sicherheit» am Center for Security Studies (CSS) der ETH Zürich. Im Juni erschien seine Analyse zu Japans militärischer Wiedergeburt

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