Eine App, die Kinderleben rettet
In abgelegenen Dörfern in Peru ist Lungenentzündung eine der häufigsten Todesursachen bei Kindern. Forschende der ETH Zürich entwickeln derzeit eine App, die künftig helfen soll, die Krankheit rechtzeitig zu erkennen.
In dem kleinen Städtchen San Marcos im Norden Perus spielt sich jeden Morgen um 6 Uhr die gleiche Szene ab: Sieben Forschungsassistenten steigen auf ihre Motorräder und machen sich über steile, unbefestigte Strassen auf den Weg. Tagtäglich klappern sie die kleinen Dörfer ab, die weit verstreut um San Marcos in Höhen zwischen 2300 und 3900 Metern liegen. Dort besuchen sie Familien mit Kindern, die derzeit an einer Studie teilnehmen.
Diese führen Forschende der ETH zusammen mit dem Schweizerischen Tropen und Public Health Institut (Swiss TPH) und der peruanischen Universität Cayetano Heredia durch. «Unser Ziel ist, die Lebensbedingungen und die Gesundheitsversorgung der Kinder zu verbessern», sagt Walter Karlen, Assistenzprofessor und Leiter des Mobile Health Systems Lab der ETH. Dabei setzt Karlen auf mobile Gesundheitstechnologien: Er entwickelt eine App, die helfen soll, Lungenentzündungen bei Kindern schneller und zuverlässiger zu diagnostizieren.
Früherkennung fehlt
Lungenentzündung ist in der Region Cajamarca neben Durchfall die häufigste Erkrankung bei kleinen Kindern. Viele Menschen leben hier in grosser Armut. Die Böden der Häuser bestehen aus gestampftem Lehm, in der Küche gibt es kein fliessendes Wasser, und gekocht wird meist noch am offenen Feuer.
«Der Rauch und die schlechte Hygiene begünstigen Atemwegserkrankungen bei Kindern», sagt Daniel Mäusezahl, Epidemiologe am Swiss TPH. Er leitet seit vielen Jahren Studien im Bereich Umweltgesundheit in der Region. Diese zielen darauf ab, durch den Einbau geschlossener Öfen und Schulungen zu Händewaschen und Küchenhygiene die Gesundheit der Kinder zu verbessern – und so insbesondere Lungenentzündungen zu vermeiden.
Laut der Weltgesundheitsorganisation WHO sterben weltweit jedes Jahr fast zwei Millionen Kinder daran – mehr als an Malaria, Aids und Masern zusammen. «Die Krankheit wird oft nicht rechtzeitig erkannt», sagt Walter Karlen, der die Studie zusammen mit Daniel Mäusezahl leitet. Grund dafür sind die fehlende Früherkennung und eine mangelhafte medizinische Versorgung. Das einzige Spital der Region befindet sich in San Marcos – von einigen Dörfern mehr als 50 Kilometer entfernt. Und in den kleinen Gesundheitsstationen, von denen es im Einzugsgebiet etwa 25 gibt, arbeiten keine Ärzte, sondern Krankenschwestern oder Pfleger. Für sie ist es schwierig, eine Lungenentzündung von einer gewöhnlichen Bronchitis zu unterscheiden. Deshalb wird ein Kind oft erst ins Spital gebracht, wenn sein Zustand kritisch ist. «Dann ist es manchmal schon zu spät», sagt Karlen.
Solche Fälle soll künftig eine App verhindern, die medizinisches Personal bei der Diagnose einer Lungenentzündung unterstützt. Eine erste Version ist bereits einsatzbereit. Sie wird im Rahmen der Studie von den eigens geschulten Forschungsassistenten, die selbst aus der Region stammen, verwendet. Sie besuchen jede der knapp 300 Familien einmal pro Woche. Dabei befragen sie die Eltern zum Gesundheitszustand ihrer Kinder, die zwischen null und zwei Jahre alt sind. Zudem messen sie mit Hilfe der App die Atemfrequenz der Kinder. «Diese ist ein wichtiges diagnostisches Kriterium, um eine Lungenentzündung festzustellen», sagt Karlen.
Die normale Frequenz liegt bei Kleinkindern zwischen 20 und 40 Atemzügen pro Minute. Um sie zu zählen, wird normalerweise beobachtet, wie oft sich der Brustkorb des Kindes pro Minute hebt und senkt. «Es kommt aber oft vor, dass man sich dabei verzählt», sagt Karlen. So können ungenaue Werte zustande kommen.
Mehr Sicherheit bei der Diagnose
Anders bei der App: Sie übernimmt das Zählen. Der Anwender tippt lediglich bei jedem Atemzug des Kindes auf einen Button. Geschieht dies lückenhaft, interpretiert die App das als versehentlich ausgelassenen Messpunkt und lässt den Anwender so lange weitertippen, bis ein verlässlicher Durchschnittswert ermittelt werden kann. Zudem können die Ergebnisse verschiedener Tage gespeichert und später miteinander verglichen werden. «Dies gibt der Person, die misst, Sicherheit und unterstützt sie beim Stellen der Diagnose», sagt Karlen. Dass die App genauso zuverlässig und dabei schneller ist als die herkömmliche Zählmethode, konnten die Forscher bereits in früheren Studien belegen.
Die Anwendung als diagnostisches Tool ist jedoch nur ein Aspekt der Studie. In erster Linie soll die App weiterentwickelt werden. Denn: «Je mehr Parameter wir zusätzlich zur Atemfrequenz erfassen, desto zuverlässiger ist die Diagnose», sagt Karlen. Einer davon ist die Sauerstoffsättigung im Blut. Ist sie sehr niedrig, ist dies ein Anzeichen für eine schwere Lungenentzündung. Darum führen die Forschungsassistenten jeweils auch eine Messung mit einem so genannten Pulsoximeter durch, das hierzulande in der Medizin Standard ist. Ein Sensor am Finger misst mittels Infrarotlicht, wie viel Sauerstoff das Blut enthält.
Die Studie soll zeigen, ob sich die Sauerstoffsättigung als weiteres Diagnosekriterium für die App eignet. Dazu haben die Forscher bereits ein mathematisches Modell entwickelt. Es berücksichtigt, welchen Sauerstoffgehalt die Atemluft in einer bestimmten Höhe hat. Diesen korreliert es mit dem Sauerstoffgehalt des Bluts. Anschliessend berechnet das Modell die Wahrscheinlichkeit, dass der Patient eine beeinträchtigte Lungenfunktion hat. Bis es so weit ist, sind jedoch noch Hürden zu überwinden. Denn die Sauerstoffsättigung variiert stark von Mensch zu Mensch, auch bei Gesunden. Zudem hängt sie von der Höhe ab: Wird die Luft dünner, sinkt auch der Sauerstoffgehalt des Blutes. Daher ist unklar, wo eigentlich die Normalwerte liegen – insbesondere bei Kindern, die in hochgelegenen Andenregionen leben.
Nun wollen die Forscher möglichst viele Messdaten in unterschiedlichen Höhen sammeln, mit denen sie ihr Modell validieren können. Da die Forschungsassistenten jedes Mal auch den Gesundheitszustand eines Kindes protokollieren, lassen sich zudem Werte von gesunden und kranken Kindern vergleichen.
Sind die Ergebnisse vielversprechend, wollen die Forscher eine erweiterte App-Version erstellen. Diese könnte dann in Zusammenarbeit mit den lokalen Gesundheitsverantwortlichen in den «Postas de Salud» eingeführt und auf ihre Alltagstauglichkeit getestet werden. «Apps haben grosses Potenzial, die Gesundheitsversorgung dort zu verbessern, wo teure Geräte und Know-how fehlen», glaubt Karlen. Denn Smartphones und Tablets sind mittlerweile günstig und auch in Entwicklungsländern weit verbreitet. Karlen hofft, dass auch seine App künftig dazu beitragen wird, das Leben von Kindern zu retten.
Dieser Artikel ist in der aktuellen Ausgabe von «Globe» erschienen.